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          Es ist das Jahr der Wahlen und Hartz IV bestimmt die Stimmung der Wähler und  damit die politische Landschaft der Bundesländer mit Konsequenzen auf Jahre wie  kaum ein anderes Thema das bisher vermochte. Der "Sozialstaatsumbau" und die  "Reformen" erhitzen die Gemüter. Dem Ausland scheint es, als würde die sich  abzeichnende Lösung zum Problem erklärt - doch diesmal kann Deutschland von  Europa lernen und sollte das auch.
    Verlief die bayerische Landtagswahl noch nach gängigen Mustern des  Parteienwettbewerbs   , so zeichnete sich danach auf dem Hintergrund permanenter  Reformdebatten und den mehr oder weniger gelungenen Umsetzungsversuchen ein  Vertrauensverlust der Bürger ab: Bei den Hamburg-Wahlen bekam die SPD die  Quittung für ihre flickschusternde Politik auf Bundesebene, in Thüringen gewann  so richtig nur die PDS dank ihrer vermeintlichen sozialen Gesinnung und selbst  an der Saar hat der Sieg der CDU einen schalen Beigeschmack. Die beiden  Volksparteien verlieren ihr Volk. Sie verlieren Wähler und Vertrauen, denn ihr  Kurs ist unklar. NPD und PDS brauchen in diesem Fall nicht einmal so tun, als  hätten sie Konzepte, sie gewinnen Stimmen, Sympathien und Mitglieder.
    Doch müssen Veränderungen der sozialen Systeme mit Radikalisierung und  Parteienfrust einhergehen? - Die Antwort lautet klar nein. Überall in Europa, wo  Konservative oder Sozialdemokraten vor der Aufgabe standen, den Sozialstaat  wieder fit zu machen, hat man wertvolle Erfahrungen gesammelt, die Deutschland  nach wie vor weitgehend ignoriert, bestenfalls häppchenweise nachkaut. Dabei ist  ein Staat, in dem nach Expertenschätzungen bis zu 40 Prozent der  Wahlberechtigten ihr Einkommen in Teilen oder ganz aus staatlichen Leistungen  oder sozialen Umschichtungsprogrammen beziehen, dringend angewiesen auf eine  Veränderung eben jener Sozialsysteme. Förderung der Eigeninitiative durch eine  aufrichtigere Politik wäre die Grundvoraussetzung für das Gelingen jedweder  Veränderung. Das machte auch Schwedens Regierungschef Göran Persson  Bundeskanzler Schröder Anfang September auf einer Klausurtagung klar: Drei Jahre  konsequenter Arbeit am Sozialen seien nötig, damit es wieder aufwärts gehe.  Schwierig sei es gewesen, aber so sei Schweden wieder wettbewerbsfähig geworden  und nur so, gab der Sozialdemokrat seinem deutschen Kollegen mit auf den Weg.  Was er als Gast höflich verschwieg: Eben jener Weg wird in Deutschland zu lange  und zögerlich beschritten und Schröder steht nicht am Anfang des Weges, denn er  springt bereits seit 1998 mit eilig lancierten Ideen auf dem Pfad der Reformen  mal vor und dann wieder zurück. Statt ein Gesamtkonzept vorzulegen, in das sich  auch Fragen des Kündigungsschutzes, der Finanzierung des Gesundheitswesens oder  der Sicherung der Renten eingliedern, legt Rot-Grün unzusammenhängende  Gesetzesideen vor.
    So hat der Kanzler unter dem Eindruck seines schwedischen Besuchers eine sozial  engagierte Bevölkerungspolitik zur Erhöhung der Geburtenzahlen angekündigt. Die  Arbeits- und Sozialhilfereform Hartz IV ist noch nicht in trockenen Tüchern, da  soll ein am Einkommen orientiertes Erziehungsgeld gezahlt werden, um die  Geburtenzahlen zu steigern. An sich begrüßenswert, scheint auch dieser Vorstoß  schlecht abgestimmt und schwer finanzierbar zu sein. Denn eins lehren die  erfolgreichen Reformer Europas: Wer zu spät und zaghaft herumdoktert, den  bestraft der Wähler. Dänen, Schweizer und Österreicher handelten vergleichsweise  schnell und können sich nun beispielsweise auf die Vermittlung von Arbeit statt  Verwaltung des Mangels konzentrieren. Die bittere Erkenntnis, daß  Arbeitslosigkeit nicht vorrangig durch einen Aufschwung beendet wird, sondern  durch das Aufgeben mancher Zumutbarkeitsgrenzen, scheint angesichts der  konjunkturprophetischen Äußerungen eines Wolfgang Clement noch nicht zum Konsens  der Bundesregierung gereift zu sein.
    Eine stärker föderale Regelung des Arbeitsmarktes und somit mehr regionalen  Wettbewerb zeigt das sicher radikale Gegenbeispiel USA. In manchen Bundesstaaten  nur ein halbes Jahr Arbeitslosenunterstützung mit durchschnittlich 58 Prozent  des letzten Nettolohns zwingen die Menschen zur engagierten Jobsuche. Dafür  subventioniert der Staat Billiglohnberufe, indem er aus Steuermitteln Zugaben  zahlt, statt Steuern von diesen Arbeitnehmern zu fordern. Arbeit wird somit im  Vergleich zur Maschine wieder lohnenswerter. In Großbritannien kennt man ein  ähnliches System: Steuergutschriften. Wer auf der Insel einen angebotenen Job  ausschlägt, verliert die öffentliche Hilfe - ein drastischeres Modell als Hartz  IV. Nicht "Arbeitslose", sondern "Arbeitsuchende" werden betreut und statistisch  erfaßt. Bei einem so großen Niedriglohnsektor erhält die Einführung eines  Mindestlohns einen Sinn - eine auch in Deutschland diskutierte Neuerung, die im  hiesigen regulierten Arbeitsmarkt aber anders als in Großbritannien noch  Arbeitsplätze kosten würde. Von den Briten schaute sich Schröder immerhin auch  das "jobcentre" ab, nur gerät es hierzulande nicht zum Durchlauferhitzer in die  Arbeit, sondern legt mit dem alten Arbeitsamt-Apparat bestenfalls die  Sozialhilfe mit dem Arbeitslosengeld zusammen.
    Die dänische "Jobbutik" vermittelt in durchschnittlich 14 statt 35 Wochen wie in  Deutschland Menschen in die Arbeit. Das muß sie auch, denn Kündigungsschutz  besteht praktisch nicht. Die Dänen "genießen" den wohl flexibelsten Arbeitsmarkt  Europas. Jeder vierte ist einmal im Jahr ohne Arbeit, doch in dieser Zeit hat er  eine luxuriöse Versorgung von 90 Prozent des letzten Bruttogehalts, maximal  1.800 Euro im Monat. In den alten Bundesländern Deutschlands sind es 345 Euro,  Großbritannien gibt umgerechnet 358 Euro monatlich. Die Schweiz zahlt ähnlich  großzügig wie Dänemark zwischen 70 und 80 Prozent des letzten Einkommens als  Arbeitslosengeld. Was an Hartz IV die Betroffenen stört, ist in der Schweiz  selbstverständlich: Nach Arbeitslosengeld folgt Sozialhilfe - nach eineinhalb  Jahren Leistungsempfang werden noch 700 Euro monatlich ausgezahlt. Womöglich dem  Minimum an Kündigungsschutz verdanken auch die über 50jährigen Eidgenossen gute  Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote liegt bei unter vier  Prozent.
    Die Niederlande füllen immerhin mit schwer vermittelbaren Arbeitslosen auf  Mindestlohnbasis ihre öffentlichen Verwaltungen und Wohlfahrtseinrichtungen auf,  die für einfache Tätigkeiten einfach bezahlte Arbeitnehmer erhalten. Der  Leitsatz dort heißt: Alles tun, um Arbeit bei gleichen Kosten besser zu  verteilen. Österreich mutet Arbeitsuchenden bereits nach 100 Tagen "ohne" einen  Platz in einer fremden Branche zu und gibt gerade ein Jahr Arbeitslosengeld. Bei  etwas über vier Prozent Arbeitslosenquote ist Widerstand dort ausgeblieben. Um  so mehr ein Signal für den großen Nachbarn im Norden, daß es letztlich nicht auf  Bezüge, sondern ein Sozialsystem ankommt, das Arbeit fördert, statt bürokratisch  miterzeugten Mangel zu versorgen. Ein einfaches und klares Grundkonzept von  Seiten der jeweiligen Regierungen aber individuelle Beratung der Betroffenen  haben in anderen Staaten Erfolg gebracht. Statt die von Jahr zu Jahr steigende  Arbeitslosigkeit auf grundlegende Fehler im System zurückzuführen, hat  Deutschland statt dessen bis heute halbherzig nur an einzelnen Symptomen  gearbeitet und dem Verteilungskonsens gehuldigt. Statt Umbau muß nun der Abbau  erfolgen - ein schmerzvollerer Weg als in anderen europäischen Staaten. Ein Weg  ist zu beschreiten, der aus dem Tal der leeren Kassen und verständlichen, aber  teuren sozialen Sonderwegen wie der Pflegeversicherung und der Arbeitslosenhilfe  herausführen muß.   
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