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Geschichte der Anthropologie

 
     
 
Die Anthropologie als eine Wissenschaft, die den Menschen in der Vielfalt seiner Erscheinungen gesamtheitlich zu erfassen trachtet, hat, verglichen mit anderen Wissenschaften, eine relativ kurze Geschichte, wenn sich auch ihre Wurzeln weit zurückverfolgen lassen. Es finden sich wie fast immer Spuren bei den Alten (A r i s t o t e l e s, G a l e n u s). Die Bezeichnung Anthropologie geht auf Aristoteles zurück, wurde aber im Altertum nicht weiter angewendet (-± Anthropologie). Während des ganzen Mittelalters konnte kein wesentlicher Fortschritt in der Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur erzielt werden. Das erste wissenschaftliche Ereignis von grundlegender Bedeutung ist die Einordnung des Menschen in das System der Tiere durch L i n n e (1735) neben die Menschenaffen Schimpanse = Homo s y l v e s t r i s oder t r o-g l o dy t e s, Mensch = Homo sapiens (nosce te ipsum ). Es ist die erste rein naturwissenschaftliche Auffassung (E. F i -s c h e r) des Menschen. Als eigentlicher Vater der Anthropologie gilt Johann Friedrich Blumenbach (x752 x842). Seine wichtigste Schrift: De generis humani varietate nativa begründete die Rassenmorphologie. Seine Gruppierung der Menschen in fünf Rassen wurde vielfach übernommen. Blumenbach leitete die Rassen von einer Stammform her, von der aus sie durch Milieueinwirkungen entstanden sein sollten. Wesentlich war auch die Erstellung einer umfangreichen Schädelsammlung verschiedener Rassen (heute in Göttingen). Eine wichtige Stellung in diesem älteren Abschnitt der Geschichte der Anthropologie nimmt auch Immanuel Kant (1724-1804) ein. Im Jahre 1775 entwickelte er in der Schrift Von den verschiedenen Racen des Menschen eine Rassensystematik und eine Rassentheorie. Die Rassen gehen danach auf eine polypotente Stammform zurück und sind vorwiegend durch Klimaeinflüsse entstanden. Natürlich spielt bei Kant die philosophische Seite eine wesentliche Rolle bei der Bildung seiner anthropologischen Vorstellungen.

Mit der allgemeinen Entfaltung der Naturwissenschaften in der ersten Hälfte des 19. Jhs. gewann die Anthropologie eine tragfähige Basis, und diese Entwicklung setzte sich in wesentlich verstärktem Maße fort, nachdem Charles Darwin (1809-1882) die Tatsache der Evolution der Organismen einsichtig gemacht und versucht hatte, sie kausal durch die Selektionstheorie zu erklären (Abstammung des Menschen). Eine Fülle von Hilfswissenschaften standen nunmehr der Anthropologie zur Verfügung: Geologie, Paläontologie, Urgeschichte (Prähistorie) und die Vielzahl der von der Biologie erarbeiteten Tatsachen. Der Mensch bildete hier nur ein Glied, wenn auch als primus inter pares,. Vielfach aber wurde dabei die Reichweite der naturwissenschaftlichen Betrachtung des Menschen für die Gewinnung eines Menschenbildes auch überschätzt, manchmal die andere Seite des Menschen von den Naturwissenschaftlern gar nicht bemerkt. Die außerordentliche Bedeutung, welche die von Darwin ausgelöste Umstellung der alten Auffassung einer statischen zu einer dynamischen Struktur des Organismischen für die Anthropologie hatte, kann allerdings nicht hoch genug veranschlagt werden. Genau wie andere Sparten der Naturwissenschaften vor allem die Biologie und die ihr nahestehenden Fächer durch den Darwinismus ungemein gefördert wurden, so konnte sich auch die Anthropologie in dieser Atmosphäre besonders gut entwikkeln. Die empirischen Kenntnisse über den Menschen weiteten sich außerordentlich, es wurde das verläßliche Fundament für den Aufbau einer exakten naturwissenschaftlichen Anthropologie gelegt. Ein historisches Datum, das erwähnt werden muß, ist die Gründung der Societe d Anthropologie de Paris 1859 durch P. B r o c a (1824 bis 1880), also vor nunmehr too Jahren. Es sind besonders die Arbeiten der seitdem in großer Zahl entstehenden wissenschaftlichen Gesellschaften, die den Weg kennzeichnen, den im letzten Jahrhundert die Entwicklung der Anthropologie genommen hat, ein weiter Weg, nicht immer frei von abirrenden Seitenpfaden, aber doch stetig vorwärts führend. Es mögen hier einige wichtige Gründungsdaten anthropologischer Gesellschaften angeführt werden: 1863 Anthropological Society of London, 1869 Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1870 Anthropologische Gesellschaft in Wien, 1879 Anthropological Society of Washington, 1900 Frankfurter Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1910 Institut Francais d Anthropologie, 1911 Institut de Paleontologie Humaine Paris, 1920 Schweizerische Gesellschaft für Anthropologie und Ethnologie, 1925 Deutsche Gesellschaft für Physische Anthropologie.

Das ist nur eine fragmentarische Zusammenstellung, zeigt aber eindrücklich die Entwicklung, die die Anthropologie als Wissenschaft bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts genommen hat. Ihre Weiterentwicklung erfolgte relativ schnell, unterstützt durch die Vermehrung der Sammlungen sowohl an Zahl als an Umfang. Besonders die Funde größerer Mengen und geschlossener Serien von Schädeln (rezenter Rassen aus Übersee und namentlich aus dem Boden Westeuropas) ließen eine ›Kraniologie(entstehen, dazu eine subtile anthropometrische Technik. Nachdem A. 0. R e t z i u s (1796-186o) die Methode der I n d i c e s in die Anthropologie eingeführt hatte, gewann die Kraniologie (dazu die 0 s t e o m e t r i e des postkranialen Skelettes) schnell an Bedeutung. Sie wurde jedoch nahezu Selbstzweck, ihre Befunde wurden in ihrer Aussagekraft weit übertrieben, und vielfach täuschten die umfangreichen Zahlentabellen eine nicht vorhandene wissenschaftliche Exaktheit vor. Daneben wurden Messungen an Leben den vorgenommen. In Deutschland hat diese Untersuchungen besonders Rudolf V i r c h o w (1821-1902) gefördert. In dein klassischen Lehrbuch von Rudolf Martin fand die anthropometrische Methode, die heute noch international angewandt wird (Methoden der Anthropologie) eine unübertreffliche Darstellung. Es ist deutlich genug, daß die Anthropometrische Epoche in der Geschichte der Anthropologie äußerst fruchtbar gewesen ist, nicht zuletzt auch bei der Beurteilung der immer zahlreicher werdenden Funde von fossilen Hominiden. Mit Recht allerdings betont E. Fischer, man sei damals noch ohne biologische Einsicht in die Bedeutung der anthropometrischen Werte gewesen. Die Me n d e 1 schen Regeln wurden ja erst im Jahre 1900 wiederentdeckt, und erst mit dem Aufbau einer exakten Erblichkeitslehre (experimentelle Erblichkeits- und Variationsforschung) ist in der Tat die eigentlicheBedeutung quantitativer deskriptiv gewonnener Daten mehr und mehr durchschaubar geworden. Das Anthropometrische Zeitalter ist auch keineswegs zu Ende. Natürlich wird weiter gemessen, muß weiter gemessen werden. Zur Erfassung anthropologischer Gruppen, zur Erfassung der quantitativen Verhältnisse, die einen fossilen Schädel charakterisieren und ihn gegenüber einem anderen absetzen, ist Messung nicht zu entbehren, das wissen wir zumindest seit S c h w a 1 b e s klassischen Untersuchungen an der Neandertal-Kalotte. Gewarnt werden muß aber auch heute noch, diese rein quantitativen Werte zu überschätzen (auch wenn sie mit modernen statistischen Methoden ausgewertet worden sind). Ohne sie entbehren zu können, muß man sich darüber klar sein, daß neben, ja vielfach vor den quantitativen Beziehungen das Gestaltliche, das Morphologische steht, das sich nicht den Meßgeräten des Anthropometrikers erschließt.

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jhs. entwickelte sich auch die Paläanthropologie. Ihr Begründer ist J. C. F u h 1 r o t t, der 1856 im Neandertale bei Düsseldorf den Schädelrest des Neandertalers barg und in ihm richtig den Rest einer eiszeitlichen Menschenform erkannte. Seitdem gibt es eine Forschung am fossilen Menschen. Ihre systematischen Begründer sind Marcellin Boule (1861-1942) in Frankreich und Gustav Schwalbe (1844-1916.) in Deutschland, um die beiden hervorragendsten Forscher zu nennen. Die paläanthropologische Forschung erfaßt heute nahezu lückenlos alle Gebiete der Erde. Die Zahl der Funde steigt in steiler Kurve an. Auch die ständig sich erweiternden Kenntnisse von der Formenvielfalt der rezenten Hominiden bildeten ein weiteres Fundament für die Entwicklung einer tragfähigen Rassenkunde. Eine erste moderne Rassenkunde und Rassensystematik wurde von J. Den i k c r im Jahre 190o vorgelegt, aber noch ohne Kenntnis der genetischen Basis. So blieb zunächst der Rassenbegriff schematisch und das System noch mehr oder weniger willkürlich. Schon relativ frühzeitig wurde der Versuch eben bei unzureichendem Wissensstand über die genetischen Grundlagen des Rassenbegriffes gemacht, die Geschichte der Menschheit von der Rassenkunde her zu interpretieren. Diese Versuche sind, von J. A. G o b i n e a u bis L. Wo l t-m a n n, ohne ausreichende genetische Kenntnisse unternommen worden, z. T. wurden sie romantisierend und emotional gelenkt und arbeiteten mit subjektiven Wertungen. Der spätere politische Rassismus baute jedoch auf diesen Versuchen auf und war den Einsprüchen einer wissenschaftlichen Rassenkunde nicht zugänglich. Man möge Rassenwissen gegen Rassenwahn setzen, betont einer unserer heute führenden Rassenbiologen, E. v. Eickstedt.

Schon 1869 begründete der Vetter von Charles Darwin, Francis G a 1 t o rt (1822-1911), die Eugenik oder Rassenhygiene (1883) aber auch hier fehlte noch die exakte biologische genetische Grundlage, die dann mit dem Ausbau von Mendels Werk gewonnen wurde. Etwa mit dem Einsetzen der exakten experimentellen M e n de 1-Forschung kann der Beginn des m o d er n en Abschnittes in der Geschichte der Anthropologie datiert werden. Sie hatte nunmehr eine neue Basis für den Aufbau der Gegenwartsanthropologie gewonnen. Die von der mächtig sich entfaltenden Vererbungsforschung (Genetik) ausgehenden Impulse übertrugen sich weithin auf die Problematik der Anthropologie. Der erste, der nachwies, daß bei der Kreuzung von Menschenrassen der Erbgang der Merkmale dieser Rassen den Mendelschen Regeln folgt, war Eugen Fischer durch seine Untersuchung an einer Population von Buren-Hottentotten-Bastarden (den R e h o b o t h e r B as t a r d s ) im Jahre 1908. Schon vorher war der Mendelsche Erbgang menschlicher normaler und pathologischer Merkmale festgestellt worden, aber von Fischer wurde erstmalig der Versuch gemacht, den Erbgang bei Kreuzungen menschlicher Rassen zu analysieren. Diese Untersuchungen bedeuten einen klassischen Fixpunkt in der Entwicklung der Anthropologie. Heute ist eine Genanalyse des Menschen schon ein gutes Stück vorangekommen, die Populationsgenetik hat die quantitativen Verhältnisse für bestimmte Gene (besonders geeignet sind hier die Blutfaktoren) in den Populationen, die Schwankungen in den Genkonzentrationen und ihre geographischen Verschiebungen bei günstigen Objekten studiert und setzt diese Studien intensiv fort (B o y d, B i r d s e 11 u. a.). Es wurde der Grundstein dazu gelegt, was uns heute fast selbstverständlich vorkommen will, daß Rassen Gruppen von Individuen mit ähnlichen Genbeständen darstellen, die, letzten Endes aus mutierten Allelen aufgebaut, in ihren geographischen Räumen kombiniert und phänisch geprägt wurden, die aber bei Kreuzung sich auflösen lassen. Zwischen Rassen gibt es keine Sterilitätsgrenzen. Es gelang damit, den Prozeß der Rassenentstehung kausal mehr und mehr dem Verständnis näherzubringen: Gene mutieren und werden durch die Selektion entweder gefördert, fügen sich den Kombinaten ein in kennzeichnenden Konzentrationen oder verfallen dem negativen Selektionsdruck. Zur Zeit ist man intensiv damit beschäftigt, das feingefügte Zusammenspielen der hier beteiligten Faktoren zu analysieren. Die experimentelle Genetik, auch die experimentelle Populationsgenetik (T h. D o b z h a n s k y), führt uns diesen Vorgang an günstigen Testobjekten (D r o s o -p h i 1 a) modellmäßig vor. Der in den letzten Jahrzehnten durch die Ergebnisse der experimentellen Genetik (Evolutionsgenetik), unterstützt durch die Neue Systematik (I. H u x l e y 1949) und die sich immer mehr auch evolutionsgenetisch orientierende Paläontologie (G. S i rri p s o n 1949) geförderte Neuaufbau der Selektionstheorie hat, 10o Jahre nach ihrer Begründung durch Charles Darwin, zu einer großartigen Bestätigung von dessen Grundideen geführt. Wir sprechen heute von der Synthetischen Theorie der Evolution (Abstammung des Menschen). Nunmehr ist auch die Zeit gekommen, um zu einem Urteil über den Wert früherer Versuche einer Rassensystematik des Menschen zu gelangen schrittweise wenigstens und wir können beginnen denn unsere Spezialkenntnisse sind insgesamt noch sehr dürftig die heutigen Systematisierungsversuche (v. E i c k s t e d t seit 1934, Rassensystematik) auf genetischer Basis zu verankern, was früher nur theoretisch möglich gewesen war.

Eine fortgeschrittene völkerkundliche Forschung und Rassenpsychologie (als die andere Seite einer gesamtheitlichen Anthropologie) liefert mehr und mehr das Material zu einer umfassenden Synthese, zu einem gesamtheitlichen Bilde der rezenten Menschheit und des heutigen Menschen (v. Eickstedt, B i a s u t t i seit 1953 u. a.). Nicht nur die historischen Prozesse, die zu der rezenten Menschheit führten, zeigen sich der Analyse wenn auch noch recht spröde zugänglich (Rassengeschichte, Rassengenese), sondern der außerordentliche Aufschwung, den die Paläanthropologie in den letzten Jahrzehnten genommen hat, enthüllt langsam auch das formale phylogenetische Wandlungsgeschehen, und die Genetik läßt auch in die kausalen Vorgänge während dieser Prozesse begründbare Einblicke zu. Das Bild, das den Ablauf der Phylogenie der Hominiden zeigt, wird nach und nach deutlicher. Nicht zuletzt tragen hierzu auch die bedeutenden Fortschritte bei, die die Erforschung der nichthominiden Primaten gemacht hat (A. H. Schultz, Zürich). Außerdem liefert die natürlich im Schatten der Genetik zunächst etwas kümmernde und zeitweise auch etwas eigenbrötlerische Forschung (morphologisch und physiologisch) am Soma des Menschen Bausteine zu der im Gange befindlichen gesamtheitlichen Synthese. Die Humangenetik ist im Laufe der Zeit aus den Anfängen der klassischen Mendelepoche zu einem imponierenden Gebäude ausgestaltet worden. Man werfe einen Blick in die modernen Lehrbücher von C. Stern (1950) und 0. v. V e r s c h a e r (1959). Man erkennt dann aber auch, daß die Klassiker (vergl. etwa die berühmte Zusammenfassung, wie sie in Deutschland durch B a a r-Fischer - L e n z {19271 gegeben wurde) auf dem rechten Wege waren. Das Ziel der anthropologischen Forschung, zu ihrem Teile das Material bereitzustellen für ein gesamtheitliches Bild des Menschen, zu einer Durchleuchtung seiner Struktur, der Struktur der Menschheit überhaupt, zu einem kausalen Verständnis der Entstehung dieser Struktur, wird, so scheint es, durch die Bemühungen der Anthropologen der ganzen Welt mit den zur Zeit zur Verfügung stehenden Methoden intensiv verfolgt.

Die gegenwärtige, im Aufschwung der Genetik wesentlich verankerte Anthropologie gewinnt nunmehr auch die tragfähigen Grundlagen, um sich mehr und mehr den Aufgaben zu widmen, die sich aus den Beziehungen zu der Medizin ergeben (Konstitutionsbiologie, E. K r e t s c h n e r, K. S a 11 e r) und sich als Angewandte (im weitesten Sinne) Anthropologie auswirken (Sozialanthropologie), bis hin zu ihrer forensischen Anwendung, bis hin zu den Vaterschaftsgutachten.
 
     
     
 
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