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Gründerjahre

 
     
 
Welches Ergebnis die Bundestagswahl am Ende auch immer zeitigen mag, eines wird ihr schon vor Auszählung der Stimmen einen historischen Rang eingetragen haben - den einer Schicksalswahl: In ihrer unstrittig kraftvollsten Rede, seit sie in der Nachfolge Wolfgang Schäubles die Führung der CDU übernahm, sagte vor wenigen Tagen Unionskanzlerkandidatin Angela Merkel - jahrelang im politischen Tagesgeschäft verfangen und eher unverdächtig, in zeitgeschichtlichen Dimensionen zu denken - auf dem Dortmunder Sonderparteitag: "Deutschland steht wie 1949 vor einer entscheidenden Weichenstellung. 1949 ging es um den Aufbau des Landes. 2005 geht es um die Erneuerung - um die zweiten Gründerjahre. Eine von mir geführte Bundesregierung wird geprägt sein vom festen Willen zur Erneuerung unseres Vaterlandes."

Mit diesem selbstgesteckten Anspruch, an dem sie sich wird messen lassen müssen, akklamiert die Vorsitzende für ihre Partei zum dritten Mal in der jüngeren Geschichte eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung über den bloßen Machterhalt
hinaus: 1982 trat Helmut Kohl an, die Bundesrepublik zu einer "geistig-moralischen Wende" zu führen. Schon Mitte seiner zweiten Amtszeit hatten sich die tradierten Grenzen zwischen bürgerlichem Lager und sozialdemokratischem Weltbild eher verfestigt, herrschte Kulturkampf auf allen gesellschaftlichen Ebenen. 1990 versprach die Union im Zuge der Wiedervereinigung neben "blühenden Landschaften" im Osten erneut eine Renaissance des Bürgertums im besten konservativen Sinne - sozialistische Altlasten und die aufkeimende Globalisierung bremsten sie am Ende aus.

Und nun die "Weichenstellung" von Dortmund. Selten zuvor waren Politik- und Staatsverdrossenheit, Zweifel an der Existenz einer politischen Elite und wirtschaftliche Ängste in der Bevölkerung so ausgeprägt wie heute, am Wahlvorabend. Wenn sich die Union am 18. September einen Wechsel auf die gestalterische Zukunft ausstellen läßt, wird sie es sich kein drittes Mal erlauben können, ihr Lager zu enttäuschen. Diesmal geht es nicht um Machtgewinn und Machterhalt, sondern um Existenzsicherung - und nur darum.

Angela Merkel weiß dies. Weiß es aber auch ihre noch immer in Eitelkeiten verstrickte Partei und deren Schwester im Süden?

Die Kanzlerkandidatin hat in dieser Woche angekündigt, sich nach der Wahl mit einem "Rat für Innovation und Wachstum" umgeben zu wollen, dessen überragender und erfahrenster Kopf Heinrich von Pierer ist. Der langjährige "Siemens"-Vorstandsvorsitzende und heutige Aufsichtsratschef schmiedete sein nationales Unternehmen, größter Arbeitgeber der Republik, zum Weltkonzern und steht seither für eine der zuletzt seltenen Erfolgsgeschichten der "Deutschland AG". Von Pierer, politisch beheimatet in der CSU, diente schon Gerhard Schröder als Berater in dessen kaum wahrgenommenen Gremium "Partner für Innovation", das PR-Gag blieb und sich an den handwerklichen Unzulänglichkeiten von Rot-Grün aufrieb.

Schon sehen Bedenkenträger in dem neuen, gleichsam institutionalisierten Wachstums-Rat die Gefahr einer Nebenregierung heraufziehen. Angela Merkel ist klug genug, solche Stimmen geflissentlich zu überhören. Was sie selbst, vor allem aber das Land jetzt mehr denn je braucht, ist der engste mögliche Schulterschluß zwischen Politik und Wirtschaft, das zielgerichtete Versammeln des verbliebenen oder fast schon resignierten ökonomischen Sachverstands.

"Es gibt keinen Weg zurück in die Idylle unter dem Mond von Wanne-Eickel", lautet Heinrich von Pierers Credo: Es scheint, als hätten die zweiten Gründerjahre der Bundesrepublik tatsächlich begonnen.
 
     
     
 
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