|  | Vor rund hundert Jahren,     1901 oder 1902, traf der "Dichterpriester" Stefan George in München auf einen     heute völlig unbekannten "Jünger" aus St. Petersburg: Henry von Heiseler.     Beide verband neben einem tiefen Gottglauben die Ablehnung der zeitgenössischen     Literaturströmung  des Naturalismus. Darüber hinaus empörten sie sich allgemein über     den als materialistisch empfundenen Zeitgeist der Jahrhundertwende. 
 Doch während der "Meister" George, dem neben Friedrich Gundolf oder Karl     Wolfskehl auch Schüler wie die Brüder Stauffenberg folgten, ohne die politischen     Wirkungen seines ästhetischen Radikalismus kaum denkbar ist, hielt sich Heiseler von     aller Politik ausdrücklich fern. Und dies, obwohl das Zeitgeschehen seine Biographie     kräftig durcheinanderwirbelte. So notierte er, daß er es "nicht fertig bringe, fast     alles Politische, Soziale und was damit zusammenhängt, wichtig genug zu nehmen".
 
 Selbst hat es der 1875 geborene Sproß einer seit Generationen an der Newa ansässigen     protestantischen deutschen Familie verdient, wichtig genommen zu werden und nicht als     Fußnote in der Literaturgeschichte zu verschwinden. Als Übersetzer und Vermittler     zwischen der russischen und deutschen Kultur war sein Tun durchaus von Bedeutung.
 
 Die eigenen Werke allerdings fanden nur wenige Leser. Selbst Sohn Bernt (1907-69) war     mit seiner dramatischen Hohenstaufen-Trilogie, dem Roman "Versöhnung" oder     seinen zahlreichen Essays zu Kunst und Literatur (Kleist, Schiller etc.) deutlich     populärer als der Vater.
 
 Verwurzelt in der um 1900 etwa 50 000 Personen zählenden deutschen Bevölkerungsgruppe     St. Petersburgs und großgeworden mit der Muttersprache, genoß Henry von Heiseler das     Aufwachsen in einem Milieu, in dem die russische und deutsche Kultur eng miteinander     verbunden waren. Außerdem gaben ihm Elternhaus, Schule und Universität gleichsam     mühelos eine reiche, den Blick erweiternde Allgemeinbildung auf den Weg.
 
 Zwischen dem Zarenreich einerseits und Deutschland und den sonstigen europäischen     Staaten im Westen andererseits schien es bis zum Ersten Weltkrieg in den Augen von     Heiselers keine nennenswerten geistigen Barrieren zu geben. Seine Entscheidung, nach dem     Erwerb des Offizierspatents im Alter von 23 Jahren ins Deutsche Reich überzusiedeln,     geschah bruchlos und brachte ihm 1903 die ersten Veröffentlichungsmöglichkeiten in     Georges "Blättern für die Kunst" ein.
 
 Regelmäßige Reisen zu seinen Eltern und Geschwistern in die nordwestrussische     Heimatstadt ließen die Verbindung zum dortigen Kulturgeschehen nie abreißen. Ein im     neuen Domizil in Brannenburg im oberbayerischen Inntal entstandenes Gedicht beschreibt     treffend den damaligen Standort des Dichters zwischen Deutschland und Rußland: "Dann     bringt der Wind mit weitgeschweiften Flügeln/Die Klänge aller Fernen an dein Ohr/Und     trägt zu jenen deutschen Buchenhügeln/den vollen Ton von Moskaus Glockenchor."
 
 Von Heiselers Dramenstoffe sind fast alle der russischen Geschichte entlehnt. Dies     trifft schon für seinen Erstling "Peter und Alexéj" zu, der 1913 in Leipzig     und München mit Erfolg auf die Bühne kam. Thema ist der elementare Konflikt zwischen dem     westlich ausgerichteten Zaren Peter d. Gr. und dessen noch dem alten, vorpetrinischen     Rußland verbundenem Sohn.
 
 Erst der Krieg und dessen Folgen brachten die "heile Dichterwelt" zum     Einsturz. Am 2. August 1914 hielt sich Henry von Heiseler gerade in St. Petersburg auf, um     am Begräbnis seines Vaters teilzunehmen. Als russischer Staatsbürger wurde er in die     Armee eingezogen, mußte aber nie an der Front auf seine deutschen Landsleute schießen.
 
 Der starke christliche Glaube ließ ihn über den Tod der Mutter und Brüder     hinwegkommen, doch das Kriegserleben und vor allem die erzwungene Teilnahme an den     Revolutionskämpfen auf seiten der "Roten" veränderten seine Identität     grundlegend.
 
 Spätestens nachdem die Bolschewiki viel von dem zerstört hatten, was ihm an Rußland     liebgewesen  war, verschob sich sein Selbstverständnis hin zum deutschen Erbteil.
 
 Henry von Heiseler wandte sich nun entschieden gegen jedweden "ästhetischen     Internationalismus" und kommentierte diesen mit den Worten: "Das ist so, als     wollte ein Pferd oder Löwe sein Pferd- oder Löwentum ausschalten, um danach erst der     Tierwelt anzugehören. Ich weiß, daß ich nur dann ganz Mensch sein kann, wenn ich vorher     ganz Deutscher, Russe, Malaie oder Chinese bin. Dies allein hat Realität, jenes andere     ist nur ein künstliches Hirngespinst."
 
 Gesundheitlich schwer angeschlagen, kam der Dichter im Herbst 1922 nach einer     halsbrecherischen Flucht vor den Sowjetkommunisten zurück ins Inntal und verstarb dort     frühzeitig am 25. November 1928. Geblieben sind vor allem die vielen Übersetzungen     Puschkins, Dostojewskis, Turgenjews, Lesskóws, Alexej Tolstois, Dymows, Iwánows,     Sologúbs, aber auch des Engländers Swinburne und nicht zuletzt des Gesamtwerks des Iren     William Butler Yeats.
 
 Bescheiden nehmen sich demgegenüber die vergleichsweise wenigen Eigenproduktionen aus.     Sie bestehen vor allem aus den Dramen
 
 "Peter und Alexéj" (1912) und "Die magische Laterne" (1919), den     Erzählungen "Der Begleiter" und "Grischa" (beide 1916), der Tragödie     "Die Kinder Godunófs" (1923), seinem Hauptwerk, dem anmutigen Lyrikbändchen     "Die drei Engel" (1926), den Gedichten "Die Legenden der Seele" (1933)     sowie einem im Juni 1928 verfaßten Aufsatz über Stefan George anläßlich dessen 60.     Geburtstags.
 
 Die wohl persönlichste Dichtung des St. Petersburgers ist die Tragödie "Wawas     Ende" (1926). Im Mittelpunkt der Handlung steht ein zarischer Offizier, der im Urlaub     von roten Soldaten verhaftet wird, schuldlos im Gefängnis landet und dem Henker zum Opfer     fällt.
 
 Bis zum Tod war der Bewunderer Puschkins, Dostojewskis, Hölderlins, Kleists,     Yeats und natürlich Georges seiner künstlerischen Maxime treu geblieben, daß     "der schöpferische Geist kein Neuerer ist, sondern ein Wiedererwecker".
 
 In den tagebuchartigen "Marginalien" schrieb von Heiseler: "Es gab eine     Zeit, da sich die Leute für moderne Dichter hielten, wenn sie     Telegraphendrähte und Eisenbahnen, Fabriken und Maschinen in Reime brachten. Jetzt sagen     sie (...) Trommelfeuer, Laufgraben, Hyäne des Kapitals, rote Fahne usw. und glauben     dadurch zu Tyrtäen des Schlachtfeldes und des Sozialismus zu werden. (...) Es ist     derselbe altbekannte, amusische, utilitaristische, rationelle Geist, der das Äußere,     Platt-Vernünftige, Zufällige, Tägliche höher schätzt als das Innerliche, Weise,     Notwendige, Ewige ."
 
 Letzteres versuchte Henry von Heiseler zu gestalten, und zwar so, wie sein Sohn dies     charakterisierte: "Etwas Schillerisches ist in seiner Art, auf die großen Kontraste,     den einfachen Schwung der Linie auszugehen. Er kam mit dieser, man wird sagen dürfen:     naiven dramatischen Anlage in eine Zeit, die überall in der Kunst n
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