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Herr gib uns Frieden

 
     
 
Werner und Alfred hießen sie, beide sind sie gefallen. " ... gefallen für Führer, Volk und Vaterland", stand da Werner betreffend, lapidar im amtlichen Schreiben, das meine Mutter in der Hand hielt. Sie weinte. Leise, wie es ihre Art war. Und doch hatte sie es vorher geahnt. "Unserem Werner wird etwas passieren", hatte sie etwa eine Woche zuvor gesagt, "ich habe geträumt, ein schwarzes Flugzeug flog ganz niedrig über unseren Hof, darin saß ein schwarz gekleideter Mann, der die Totenglocke
läutete."

Ein paar Tage später traf ein Feldpostbrief ein, in dem der Leutnant meines Bruders die näheren Umstände seines Todes beschrieb. Werner, der bei seinem letzten Fronturlaub, nicht mehr an den "Endsieg" glaubend, geäußert hatte "Ich möchte nur einen anständigen Kopfschuß", hatte einen Bauchschuß erhalten und konnte nicht mehr gerettet werden. Er sei, so der Leutnant, auf dem Soldatenfriedhof bei der Stadt Winniza (Ukraine) beerdigt worden, ein kleines Holzkreuz mit seinem Namen kennzeichne sein Grab.

Der Tod meines Bruders Alfred wurde nicht durch ein Glocke angekündigt, sein Grab kennzeichnet auch kein Holzkreuz. Als Sanitäter bei einer Luftwaffeneinheit im süd-italienischen Raum eingesetzt, war er dem Aufruf des unrühmlichen Gauleiters Erich Koch "Ostdeutsche Bauernsöhne verteidigt eure Heimat" gefolgt. So wurde mein Bruder, kurz vor der großen Winter-Offensive der Sowjetarmee, im Raum Pillkallen eingesetzt. Die mörderische Schlacht um die Stadt hat er überlebt, denn Anfang März erhielt meine Tante, die in Kleinmachnow bei Berlin lebt, von ihm einen Kartengruß aus Danzig. Das war die letzte Nachricht von Alfred, bis 1957 galt er als vermißt. Dann erhielten meine Eltern, die nach der Flucht bei meiner Tante lebten, einen Brief vom Roten Kreuz, der einige uns bekannte Fotos enthielt, Briefe, die mit "Lieber Alfred" begannen, und den Wehrpaß. Wie das Rote Kreuz mitteilte, hatten Aussiedler im März 1945 tote Soldaten auf einem Acker begraben müssen und die, teils verstreuten, Papiere an sich genommen. Die Lage hatten sie mit etwa 15 Kilometer von Danzig angegeben. Das zu lesen war fast ein Schock für uns! Wir, das heißt, meine Eltern und ich, mußten uns zur gleichen Zeit ganz in der Nähe aufgehalten haben, als wir bei Fluchtende etwa 20 Kilometer westlich von Danzig auf einem kleinen polnischen Bauernhof Quartier gefunden hatten - bis ich nach Sibirien und meine Eltern in ein polnisches Lager deportiert wurden; ahnungslos, daß unser Alfred ganz in unserer Nähe um sein Leben kämpfen mußte und diesen Kampf verlor ...

Meine Brüder, fünf und sechseinhalb Jahre älter als ich, waren in ihrem Wesen sehr verschieden. Alfred, der Jüngere, sollte einst den Hof erben. Schon als Kind hatte sich das in ihm steckende Bauernblut gezeigt: Er wußte mit den Tieren umzugehen, ging Vater freudig zur Hand und suchte sich, mit zunehmendem Alter, selbst Arbeit auf dem Hof. Er war recht übermütig, gnidderte gern, besonders wenn er mir, seiner kleinen Schwester, einen Streich gespielt hatte und ich mit meinen kleinen Fäusten auf ihn einhämmerte. Und doch muß Alfred ein wachsweiches Herz gehabt haben. Als zu meiner Konfirmationsfeier unser prächtiger Truthahn geschlachtet werden sollte, protestierte der 16jährige bei meiner Mutter dermaßen heftig, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Kurz darauf dann hörte ich, wie er, kniend den Truthahn umfaßte und zu ihm sagte: "Mien Putax (so nannte er ihn immer), öck loat die nich schlachte - öck loat dat nich too - nei dat loat öck nich, mien Putax."

Nicht von ungefähr kam Alfreds Liebe zu diesem "seinem" Putax. Dieser ließ oft seine Putendamen stehen und suchte seine Nähe, um ihm mit aufgeplustertem Gefieder bei leicht tänzelnden Körperdrehungen und den typischen Gurgellauten seine Liebe zu bekunden. Leider fand diese seltsame Liebe dann ihr tragisches Ende in Form eines vortrefflich gelungenen Bratens, aber mein Brüderlein aß nur, mit verachtungsvollen Blicken auf meinen Vater, Kartoffeln mit Schmorkohl. Mit einer großen Feder an seinem Hut, den er auch während der Feldarbeit trug, zeigte Alfred noch lange seine Trauer um den Freund, und oft sah man hinter einem hochstehenden Roggenfeld nur einen Hut mit Feder laufen.

Mein Bruder Werner war ein Träumer. Sanft und liebevoll war seine Art, versonnen spielte er auf seiner Mundharmonika, lehrte auch mich darauf zu spielen, und oft las er. So ist mir noch ein Bild von ihm sehr gegenwärtig, wie er auf der Chaiselongue liegt und, ein Buch lesend, die an ihn geschmiegte dreifarbig-gefleckte Katze Emma streichelt. Ich weiß auch noch, wie gern ich bei meinen Brüdern mit am Tisch saß, wenn sie Schularbeiten machten. Aber anstelle "Hau ab, du störst uns", erklärte Werner mir alles geduldig.

Für diesen jungen Menschen, der mehr allem Schöngeistigen zugewandt war, hatte mein Vater im 30 Kilometer entfernten Ragnit eine Lehrstelle fürs Fleischerhandwerk besorgt. Ohne aufzumucken trat der großgewachsene Werner mit 15 1/2 Jahren an, brachte allwöchentlich die blutverschmutzte Arbeitskleidung zum Waschen nach Hause, war auffallend still und zuckte nur mit den Schultern auf die Frage, wie ihm die Arbeit gefalle. Es mag nach fünf oder sechs Wochen gewesen sein, als es sonntags nach dem Mittagessen aus ihm herausbrach: Er legte den Kopf auf den Tisch und weinte bitterlich. "Papa, ich kann nicht mehr! Immer Tiere schlachten, sie sterben sehn, das viele Blut - das halt ich nicht aus, ich kann das wirklich nicht mehr."

Natürlich holte mein Vater ihn sofort nach Hause. Werner meldete sich dann freiwillig zum Reichsarbeitsdienst und, da ihm der Dienst wie auch das ganze Umfeld zusagte, verpflichtete er sich für eine Berufslaufbahn. Bald avancierte er zum Truppführer und bezog ein recht gutes Gehalt, das ihm auch noch gezahlt wurde, als nach Ausbruch des Krieges seine Einheit von der Wehrmacht übernommen wurde und Werner als Soldat in Rußland zum Einsatz kam.

Wie oft habe ich mir im Verlauf der Jahre vorgestellt, meine Brüder wären aus dem Krieg heimgekehrt. - Alfred hätte sicherlich angestrebt, einen Bauernhof zu besitzen, vielleicht durch Einheirat, Werner wäre vielleicht in den Staatsdienst gegangen, beide hätten aber mit Sicherheit eine Familie gegründet. Was hätte das für eine große Gästeschar an Festtagen abgegeben! Wie sehnlichst wünschte ich, mit meinen Brüdern Erinnerungen austauschen zu können, damals unterlassene Gespräche zu führen. Und eine brüderliche Schulter zum Anlehnen hätte vielleicht auch mal gut getan. Diese Lücke können auch die besten Freunde nicht füllen. Höre ich mitunter, daß zwischen Geschwistern erbitterter Streit und Beleidigungen zum Abbruch jeglicher Verbindung führen, kann ich das, auch bei noch so überzeugend vorgetragenen Gründen, nicht verstehen. Ist es denn so schwer, die Hand zu reichen und zu sagen: "Komm, wir wollen noch einmal darüber reden"?

Wie bewegend waren die Aussagen einiger Zeitzeugen in der Dokumentation des ZDF "Das Drama von Dresden". Auf die Frage, ob sie Haßgefühle gegen die Bombenwerfer hätten, antworteten diese Menschen, die - wortgetreu - durch eine Hölle gegangen sind: "Nein, ich habe verziehen."

Am 8. Mai 1945 stand ich, zusammen mit etwa 1.400 anderen verschleppten Frauen auf dem Lagerhof und vernahm die gewichtige Stimme des sowjetischen Lagerkommandanten, durch den Dolmetscher übersetzt: "Der Krieg ist zu Ende!! Die ruhmreiche Rote Armee hat gesiegt, Berlin ist gefallen." - Sollte ich mich nun "befreit" fühlen? Welche Gedanken uns am 8. Mai auch immer bewegen mögen, ob man die Schrecken des Krieges erlebt hat oder später geboren ist, ob man Deutscher ist oder jenseits unserer Grenzen lebt, eines sollte in uns allen sein: Dankbarkeit! Dankbarkeit dafür, daß wir 60 Jahre ohne Krieg leben durften. Jeder Krieg ist ein Verbrechen, und das Volk ist immer der Verlierer; auch das des sogenannten Siegers. Schließen wir uns auch den Dresdnern an, die zum Abschluß der Gedenkfeier in der Kreuzkirche sangen: "dona nobis pacem" - Herr gib uns Frieden.

Aus glücklichen Tagen: Hildegard mit ihren Brüdern Alfred und Werner
 
     
     
 
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