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Ich bin ein langsamer Arbeiter: Sachsens umweltminister Arnold Vaatz über Literat Reiner Kunze

 
     
 
Reiner Kunze hat bisher ein schmales Werk verfaßt. Als er 1977 aus Greiz verdrängt wurde, war es noch schmaler. "Ich bin ein langsamer Arbeiter", pflegt er gelegentlich zu sagen. Ein langsamer Arbeiter war nicht das Idealbild, das man uns damals anzuerziehen suchte. Wer sich in Reiner Kunzes Gedichte vertiefte, dem erschloß sich aber nach und nach das Bezwingende an dieser Langsamkeit. Dieses schmale Werk sitzt um so fester, wenn man es nur in sich einläßt. Es wird nur ganz wenige Schriftsteller der Gegenwart geben, aus deren Werk meine Generation – sofern in der früheren DDR aufgewachsen – so vieles aus der bloßen Erinnerung zu zitieren wüßte. Neigt man zu kleinen Übertreibungen, so wäre man versucht zu sagen: Beinahe jedes seiner Worte vermag im Gedächtnis zu nisten. Sein Werk mußte politisch werden, enorm politisch sogar, weil die Politik es war, die in dem Land, in dem er lebte und arbeitete, das Terrain der freien Literatur verletzt und umgepflügt hatte. Kein einziges seiner Worte aber mußte 1990 zurückgenommen werden. Wenigstens hierin unterscheiden sich die Worte von ihm von denen mancher seiner Kritiker.

Begonnen hat für mich, damals 17jährig, die Faszination mit einem schmalen Band des Leipziger Reclam-Verlages mit dem Titel "Brief mit blauem Siegel".

In Gestalt dieses kleinen Heftchens kam bei uns eine Botschaft an. Ich habe nicht vorher und nicht später eine ähnliche durch die Lektüre von Gedichten ausgelöste Erregung
wahrgenommen wie in diesen Tagen. "Welcher Schülerbogen? Was zum Teufel ist ein Schülerbogen?", hörte man fragen. Und antwortete: "Na denkst Du, die vergessen was? Es wird alles notiert! Das ist doch klar!" "Na und? Es muß so sein. Man muß schließlich Freund und Feind auseinanderhalten können, oder?" Das Gedicht, das solche Erregung auslöste, beschäftigte die Schüler, es beschäftigte die Lehrer, es beschäftigte die Eltern. Es hieß "Appell". Der erste Teil lautet:

"D., schüler der siebenten klasse,

hatte

versehen mit brille und dichtem

haupthaar

das bildnis Lenins

öffentlich

So

in gefährliche nähe geraten

der feinde der arbeiterklasse, der

imperialisten ihr

handlanger fast, mußte er stehn

in der mitte dies schulhofs

Strafe:

tadel, eingetragen in den schüler-

bogen der

ihn begleiten werde

sein leben lang".

Dieses Gedicht, geschrieben 1971, beschreibt einen auch von uns Schülern seinerzeit als normal angesehenen Vorgang. Normal, weil wohl alle Kinder dieser Welt, sobald von Langeweile geplagt und mit den nötigen Utensilien versehen, den Drang verspüren, Bilder zu verzieren, normal aber auch, weil längst als selbstverständlich hingenommen wurde, daß die Staatsmacht – in der Schule vertreten durch den Lehrer – solche Späße, die sich das Unbewußte mit gelangweilten Kindern macht, als der Andung würdigen Angriff auf die Idee des Kommunismus und seine Repräsentanten verstand. Dies letztere ist aber nicht nur normal, sondern zugleich ungeheuerlich. Denn nichts weniger als die Zukunft des Schülers sollte nun verwirkt sein. Es war der Kafkasche Reflex des Schlages ans Hoftor, der uns hier mit einem kalten Luftzug auf dem Schulhof, der auch als Appellplatz diente, angeweht hat. Wenn heute alle Erklärungsversuche scheitern, einem dreizehnjährigen Kind bei uns zu erklären, was es mit der vor sieben Jahren vergangenen Diktatur für eine Bewandtnis hatte, so genügt es, zu warten, bis man eine Illustrierte oder ein Schulbuch findet, auf dem dieses Kind ein Gesicht mit einer Brille oder eine Glatze mit Haaren bemalt hat – und ihm dann Reiner Kunzes Gedicht "Appell" vorzulesen.

Einen gewohnten Gegenstand vom Weg aufzuheben und dem Leser die Augen dafür zu öffnen, daß es sich bei diesem Gegenstand um etwas Besonderes, manchmal Ungeheuerliches handelt, dies ist die Gabe von Reiner Kunze.

Im gleichen Reclamheftchen befand sich ein kleiner Gedichtzyklus, überschrieben mit "variationen über das thema post". Wir ahnten damals wohl, daß es hier nicht um die Beschreibung der Post geht, sondern um die Beschreibung einer Gefangenschaft, in der die Post eine Verbindung mit der Außenwelt ist. Wir wußten noch nicht, als sechzehn- bis achtzehnjährige, was die Gewißheit, gefangen zu sein, mit der Seele eines Menschen zu tun vermochte. Dies erfuhren wir Tag für Tag und Jahr für Jahr in den folgenden noch nahezu zwanzig Jahren. Bis täglich der Wunsch über die Türschwelle tritt, alles aufs Spiel zu setzen und mit nichts als dem nackten Leben an die Orte zu fliehen, in denen die Briefe mit fremden Marken geschrieben wurden, die der Briefträger in seiner Tasche trägt, ist es ein weiter Weg. Das erste Gedicht dieser Variationen beschreibt klirrenden Frost, Zurückgezogensein, Wärme, Hoffnung, eine stille Freude sogar – bei aller Einsicht in die vorläufige Unabänderlichkeit der Kälte. Es lautet:

"Wenn die post

hinters fenster fährt blühn

die eisblumen gelb."

Es war also nicht alles schlecht in der DDR. In keinem Gefängnis der Welt nämlich ist alles schlecht. "Wenn die post dort hinters fenster fährt, blühn die eisblumen gelb." Ich zähle diese drei Zeilen zu dem Bedeutendsten, was die Literatur in der früheren DDR uns geschenkt hat. Diese kurze, aber atemberaubende Beschreibung von Ausgeliefertsein, jedoch auch zugleich die Beschreibung der Machtlosigkeit dieser schlimmen Umstände, wenn es gilt, über die Intensität des Lebens in der Gefangenschaft zu gebieten, ist vielleicht ein Schlüssel zu der Frage, warum Reiner Kunze es vermochte, einen Weg zu gehen, der ihn so oft bis an die Grenze zu einer direkten körperlichen Gefahr brachte. Dieser Weg in die äußere Gefahr nämlich brachte ihn geistig in Sicherheit – das heißt: In Übereinstimmung mit sich selbst.

Es waren Tage, die wir mit großer innerer Anspannung wahrnahmen: Als sein Buch, dessen Titel er bis zum letzten Tag auch vor seinen Freunden in nach erzgebirgisch-vorweihnachtlicher Manier geheimgehalten hatte wie eine Weihnachtsüberraschung, das Buch "Die wunderbaren Jahre" erschienen waren. Reiner Kunze hatte mit diesem Buch die Karawane der sozialistischen Schriftsteller, der er schon lange nicht mehr angehörte, endgültig verlassen. Unzählige Gespräche bildeten den Stoff des Buches. In den jungen Gemeinden und in den Kirchen, zu Rüstzeiten und Chortreffen raunte man sich schon seit langem zu, daß ein solches Buch – von dem man freilich noch nicht wußte, wie es heißt – gegenwärtig entstünde. Reiner Kunze hatte am Osterwochenende 1974 in Neudietendorf bei Erfurt vor evangelischen Jugendlichen von diesem Buchprojekt berichtet und erste, bereits fertige Geschichten, die sich später in ihm wiederfinden sollten, vorgetragen. Er sei, so sagte er damals, bei diesem Buch wie noch niemals sonst, auf Fakten angewiesen. Wer immer ihm solche Fakten zugänglich machen wolle, sei dazu herzlich eingeladen und möge ihm schreiben. Es verstand sich von selbst, daß diese Bitte sich wie ein Lauffeuer im hellhörigen Raum der Kirche verbreitete. Ich bemühte mich ebenfalls mit Eifer – immer auch mit einer Portion Vorsicht und Skepsis, ich könne mich gerade dem Falschen anvertrauen – das Anliegen von Reiner Kunze stetig weiterzuverbreiten. Im Jahre 1975 und im Frühjahr 1976 – seinerzeit noch meiner Wehrpflicht bei der Armee genügend – nutzte ich beinahe jeden Besuch in Greiz. Einmal sah ich Reiner Kunze hinter einem Berg von über dreihundert Briefen sitzen – er nannte mir die genaue Zahl – die er jenen Menschen schicken wollte, die ihm Material für sein Buch überlassen hatten.

Ab und zu trug er fertige Texte vor. Ich wurde ein faszinierter Zeuge der Prozedur, der sich Reiner Kunze unterwarf, als er die Überfülle des Stoffes zu ordnen suchte, die Tatsachen in fiktive Rahmen einarbeitete, die eine Rückverfolgung der Information nicht gestatten sollten. Dabei wurde ich aufmerksam auf die peinliche Akkuratesse, mit der er vorging und die er, wie sich mir später erschloß, von der Gartenarbeit über die Autoreparatur bis hin zur Schriftstellerei auf alles anwendet, was er tut.

Es entstand eine minutiös realistische Beschreibung der wunderbaren Jahre im Leben eines Menschen, seiner Jugend, unter den Bedingungen des Sozialismus und des Umganges der Staatsmacht, der Polizei, der Haft, der Schule, ja sogar gelegentlich der Eltern – mit diesen wunderbaren Jahren eines Menschen. Kaum einer, dessen Leben es betraf, konnte sich den Botschaften dieses schmalen Heftchens entziehen, das in wenigen Exemplaren durch die streng bewachten Zollkontrollen ins Land geschmuggelt wurde und dann – wie in Zeiten vor der Erfindung des Buchdrucks – per Hand vervielfältigt wurde.

Das Buch "Die wunderbaren Jahre" trug ihm die nunmehr ungezügelte, aggressive Feindschaft der Machtzentrale in Ost-Berlin ein. "Von der Form her erscheint das Buch dem Berichterstatter so, daß es von vielen Menschen sehr gern und sehr schnell durchgelesen wird. Der Berichterstatter ist überzeugt, daß eine im negativen Sinne explosive Wirkung nicht ist." So lautet der Bericht des Inoffiziellen Mitarbeiters "Bongartz" an die Staatssicherheit. Unter dem Decknamen "Bongartz" schrieb seinerzeit der spätere Mitbegründer und zeitweilige Vorsitzende der ostdeutschen SPD, Manfred Böhme, der später seinen Vornamen änderte und sich Ibrahim Böhme nannte. Böhme wohnte damals in Greiz. Es liefen daraufhin beispiellose Überwachungsmaßnahmen an. Tagesanalysen wurden gefertigt. Man strebte sogar eine "Kontrolle des Verhaltens und des Bewegungsablaufes der Vorgangsperson (Reiner Kunze)" an. Fieberhaft wurde geschnüffelt und geforscht, Nachbarn instrumentalisiert, Freunde unter Druck gesetzt. "Genosse W. überprüft, ob ein geeigneter IM zur Bearbeitung der Marcela Kunze (der Tochter) in Jena vorhanden ist bzw. geschaffen werden kann" oder: "Das Machtwerk ,Die wunderbaren Jahre‘ ist einem zuverlässigen Juristen zu übergeben, damit dieser es vom strafrechtlichen Standpunkt her beurteilen kann."

Im Herbst 1976 hatte die Staatsmacht gegen Wolf Biermann zugeschlagen und damit demonstriert, daß sie nun gewillt ist, offen und unverblümt mit Mitteln administrativer Gewalt nicht genehmes Gedankengut zu bekämpfen. Medienöffentlichkeit im Westen, deren Existenz man seinerzeit eine gewisse Schutzwirkung vor dem Zugriff der Machtorgane der früheren DDR zuschrieb, wurde demonstrativ ignoriert. Das erschwerte auch die Lage von Reiner Kunze. Der Druck auf ihn nahm täglich zu. Am 3. November 1976 beschloß der Schriftstellerverband den Ausschluß seines Mitgliedes Reiner Kunze. Im Bericht an die Staatssicherheit heißt es, Hermann Kant – damals Vorsitzender des Schriftstellerverbandes – und Erwin Strittmatter seien der Auffassung, daß es Zeit wäre, Reiner Kunze aus der DDR auszuweisen. Aber gerade an dieser Stelle muß auch gesagt werden: Nicht alle dachten und handelten so. Günter de Bruyn und Jurek Becker gehörten zu den wenigen, die sich offen gegen die Haltung des Schriftstellerverbandes zu Reiner Kunze aussprachen. Es nimmt sich dennoch heute wie ein Wunder aus, daß gerade in dieser Zeit auch das unter normalen Umständen Selbstverständliche ablief: Rainer Kunze empfing Besucher, am Tisch regierte nicht nur nur die Angst, es wurde auch gelacht, Wein getrunken und Musik gehört. Und es wurde gelesen.

Reiner Kunze ließ sich nicht beirren. Es folgten auch in diesen Wochen besonders häufig Einladungen zu Lesungen aus seinem Buch. Die Staatssicherheit verfolgte dies alles mit alarmiertem Gehabe und zugleich einer nahezu grotesken Ratlosigkeit – Zitat: "Telegramm Dringend: Durch eigene Quellen wurde bekannt, daß der Schriftsteller Reiner Kunze verstärkte Aktivitäten zur Verbreitung seiner antisozialistischen Auffassungen entwickelt. Folgende Veranstaltungen sind uns bekannt geworden: Am (es folgt das Datum) in Magdeburg; am (es folgt ein zweites Datum) abermals in Magdeburg. Veranstalter: Evangelische Studentengemeinde (Die Veranstaltungen ... sollen bereits ausverkauft sein.) Die zuständigen Bezirksverwaltungen des MfS wurden gebeten, ein Auftreten des Kunze zu verhindern."

 
     
     
 
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