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Jetzt auch Brandenburg

 
     
 
Mittags ist der geeignete Zeitpunkt, um die „Norma“-Filiale in Lebus an der Oder zu besuchen. Gleich am Ortseingang buhlt der Supermarkt mit seinem großen, fast leeren Parkplatz um Kundschaft. Das Gewerbegebiet daneben ist teilweise verlassen und mit Bauzäunen abgesperrt. Zwischen den langen Regalreihen der Kaufhalle verlieren sich gerade vier Kunden, die langsam ihren Einkaufswagen vor sich herschieben. Neben der Kasse lockt der Fleisch- und Wurststand mit integriertem Imbiß. „Donnerstags ist Schlachtetag“, steht auf dem Schild. Von Ansturm auch hier keine Rede: An einem Stehtisch beißen ein älterer Mann und seine zehnjährigen Enkeltochter in ihre Bockwürste. An der Kasse warten jetzt drei ältere Frauen.  Die Kleine ist schon fertig mit dem Essen, quengelt: „Opa, laß uns nach Hause gehen!“ Sie wächst ohne viele Gleichaltrige auf. In zehn Jahren wird sie vielleicht weggehen. Denn sie ist in einer Region mit deutlich weniger als 1,3 Kindern pro Frau (2003) zur Welt gekommen, die auch 2016 laut Prognose genauso strukturschwach und trostlos sein wird wie heute. Die augenblickliche Geburtenrate
wird sich aber erst in einigen Jahren niederschlagen. Zur Zeit wirkt sich am Arbeitsmarkt erst einmal die noch weit niedrigere Quote von 1990 und den Jahren unmittelbar danach aus. Sie war während des aufregenden Wendejahrs auf spektakuläre 0,7 Kinder pro Frau abgesunken. Diese (wenigen) Jugendlichen verlassen in den neuen Ländern in den kommenden Jahren die Schule. Arbeitskräftemangel wird die unaufhaltsame Folge sein. Seit der Wende haben bereits 1,5 Millionen Menschen ihre Heimat in der früheren DDR verlassen. Brandenburg ist bisher - anders als die anderen Länder - von einem solchen Exodus weitgehend verschont geblieben.  Die Verluste werden durch Berliner ausgeglichen, die nach Kleinmachnow, Potsdam, Stahnsdorf oder Oranienburg ins Grüne ziehen. Oder durch Neu-„Berliner“ aus westdeutschen Regionen, die zwar in der Hauptstadt arbeiten, aber lieber im ruhigen Umland wohnen. Der Landkreis Märkisch-Oderland, zu dem Lebus zählt, konnte seine Einwohnerzahl zwischen 1990 und 2004 sogar steigern. Der Kreis reicht von Berlin bis zur Oder. Dabei ergoß sich der Strom der Zuzügler jedoch fast ausschließlich in die Gemeinden ganz nahe bei der Hauptstadt. Der Rand der Mark ging beinahe leer aus und mußte teilweise dramatische Bevölkerungsrückgänge verkraften. Lebus ist da eine der wenigen positiven Ausnahmen. „Nach Lebus kommen zum Beispiel Leute aus Frankfurt/ Oder.  Die, die noch einen Job haben, verdienen ja gut, können sich ein Häuschen leisten“, sagt Manfred Hunger. Der gebürtige Thüringer kümmert sich um das Heimatkundemuseum seiner Stadt. Jeden Tag erklärt er Besuchern aus der Umgebung das Auf und Ab des Ortes. Lebus sei wegen der Handelswege groß geworden, die schon im 9. Jahrhundert hier entlang führten, erklärt Hunger. „Der Handel, der hier durchkam, hat den Menschen Wohlstand gebracht, und die Burg hat ihnen Schutz gegeben.“ Im Dreißigjährigen Krieg wurde immer wieder geplündert. Durch Ansiedelungspolitik und das Urbarmachen des Oder-Ostufers stieg die Einwohnerzahl aber wieder. 15 Jahre durfte steuerfrei wirtschaften, wer ans Ostufer übersiedelte. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die Stadt 3 000 Einwohner. Anfang 1945 war Lebus ein Vierteljahr lang Hauptkampflinie. Die Rote Armee wütete ganz besonders, berichtet Manfred Hunger. Als die evakuierten Einwohner zurückgekehrt seien, habe alles in Trümmern gelegen. Nach dem 8. Mai seien noch einmal 200 Menschen von explodierenden Landminen zerrissen worden. 1990 hatte der Ort wieder 1700 Einwohner. Diese Zahl ist bis heute auf 2600 angestiegen, mit den eingemeindeten Dörfern ringsum sogar auf 3 375. „Wir sind der Speckgürtel von Frankfurt (Oder). Zu uns kommen vor allem Zollbedienstete und Beamte vom Grenzschutz“, freut sich Bürgermeister Bernd Tillack.  Die Häuslebauer reize die schöne Landschaft und der günstigen Quadratmeterpreise für Bauland (30 Euro). Sie glichen den Weggang der einheimischen Jugendlichen aus, so Tillack. „Die gehen weg, um eine Lehrstelle zu bekommen.“ Lebus bietet neben dem städtischen sogar noch einen kirchlichen Kindergarten. Aber die Gesamtschule wurde 2005 bereits geschlossen. Der Geburtenmangel nach 1990 zeigt seine Wirkung. Zudem verfügt Lebus über keinen großen Arbeitgeber mehr. Die LPG ist pleite, sie war früher der größte Betrieb. „Auch das Handwerk ist runter“, klagt Hunger. Experten sprechen vom „Anpassungsprozeß“, wenn sie den Niedergang ganzer Regionen beschreiben. Lebus im Oderbruch und der gesamte Landkreis Märkisch-Oderland werden trotz aller hier sichtbaren Schwierigkeiten vermutlich noch glimpflich davonkommen. Berlin-fernen Landkreisen wie der Uckermark im Norden oder der Oderspreewald-Lausitz im Süden werden Bevölkerungsrückgänge von zehn und mehr Prozent prophezeit. Wenn die Einwohnerzahlen wenigstens stagnieren, dann dank längerer Lebenserwartung. Die brandenburgische Landesregierung prognostizierte kürzlich sehr nüchtern: „Sinkende Kinderzahlen und starker Zuwachs an Personen im höheren Lebensalter lassen das Durchschnittsalter der Brandenburger ansteigen.“ Die Zukunft zahlreicher Orte und Kreise hier sieht nicht bloß sehr einsam aus, sondern vor allem sehr alt.
 
     
     
 
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