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Kabale:

 
     
 
Als während der Albigenserzeit die Unfreiheit immer stärker anwuchs und es wenig ratsam schien, sich offen zu den Lehren der "Ketzer" zu bekennen, verfiel man auf den Ausweg, sich mit einem gesummten Liedlein einander zu erkennen zu geben. Während die Häscher der reinen Lehre auf jedwede ketzerische Regung achteten, brummten sich die Gesinnungsfreunde leise ihre Erkennungsmelodie zu, die heute als harmloser Kinderkanon mit dem schönen Kehrreim "Meister Jakob, schläfst du noch, schläfst du noch ..." in aller Ohren ist. Wenn man freilich an das Ende der Abweichler denkt, dann nutzte selbst diese Tarnung wenig, und der Kanon wird heute nur noch von Kindern gesungen.

Als in unseren Tagen der Philosoph Peter Sloterdijk angesichts der rasch fortschreitenden Erkenntnisse der Genwissenschaft und der damit in Verbindung stehenden möglichen vorgeburtlichen Diagnostik und der denkbaren Auswahlkriterien für Genmaterial nach Konsequenzen fragte, half ihm das früher 1968 mit seinen heutigen Häschern gemeinsam gesummte Liedchen wenig: Er hatte unaufgefordert den Rubikon überschritten und verfiel sofort den Keulenschlägen der Gutmenschen
und ihrer Institutionen von "Zeit" bis "Süddeutscher Zeitung". Dabei wollte er eigentlich nur Unterschiede gesetzt wissen zwischen "legitimen genmedizinischen Optimierungen für die einzelnen" und "illegitimen Biopolitiken für Gruppen".

Mit anderen Worten, der Philosoph Sloterdijk hält es für längst überfällig, daß über die Erkenntnisse der Genwissenschaft, die maximal gesundes Erbmaterial "herstellen" kann, ebenso entschieden werden muß wie beispielsweise über Eskimos, die sich ein machtpolitisches Zentrum von Grönland über Dänemark auf ganz Europa hin mittels eines spezifischen Züchtungsmonopols schaffen würden. Es liegt auf der Hand, daß über Eventualitäten der Genwissenschaft geredet werden muß, und es ist sicher, daß es keine kleinen Schwierigkeiten zu bedenken gilt.

Doch die Wächterschar der Gutmenschen witterte sofort, daß Sloterdijk mit seinen Thesen zum "Faschisten" mutiert sei, und führte, um die Nachhaltigkeit der Argumente in den Rang von Dogmen zu erheben, anonyme "jüdische Teilnehmer" des Symposions an, denen die "Verstimmung" noch am "übernächsten Tag im Gesicht geschrieben" stand. "Zeit"-Redakteur Thomas Assheuer schrieb, getreu wie ein Imprimaturenamt, von der "Verirrung" des "Weltanschauungsphilosophen" Sloterdijk, in dessen "Selektionsphantasien" ein "fürchterlicher Realismus" hause, der das "diabolische Potential der Genforschung nüchtern ins Auge" fasse. In seiner Retourkutsche verweist Sloterdijk zunächst auf den "von Ihnen fabelhaft dämonisierten Text" des Zeit-Redakteurs, um dann die diffamierend ins Gespräch gebrachte "elitistische Neuzüchtung" als pure Erfindung Assheuers zu entlarven. Sloterdijk greift möglicherweise bewußt ins harmlosere Argumentenfach, wenn er meint, daß sich mit dieser Art von Darstellung eine "Entwicklung vom Alarmismus zum Skandalismus vollzieht" und daß es sich um "Erregungsproduktionen auf dem eng gewordenen Markt der Aufmerksamkeitsquoten" handele.

Aufschlußreicher dürfte da schon Sloterdijks Brief an den erlauchten "Chefdenker der Frankfurter Schule", Werner Habermas, sein, der wohl die Alarmleine heftig gezogen hatte: "Über Wochen hin, scheint es, haben Sie im Groben gepoltert und im Feinen agitiert. Sie haben zwischen Hamburg und Jerusalem herumtelefoniert, um andere zu Ihrem Irrtum zu bekehren. Sie haben Kollegen, die meine Elmauer Rede bedenkenswert fanden, sogar massiv unter Druck gesetzt." Aufschlußreich scheint, daß der Chefideologe der Frankfurter Schule offenbar immer noch mühelos auf der Klaviatur diverser Medien spielen darf und nicht einmal im Ansatz ein Hauch von eigenständigen Gedankengängen geduldet wird.

Bedeutsam aber auch, daß der Automatismus der Meinungs- und Stimmungsmacherei nicht mehr vollständig funktioniert, was gewiß nicht zu der Annahme verleiten sollte, daß der Feind schon flieht. Aber vielleicht ist es schon an der Zeit, daß man den "Alarmismus" für den deutschen Michel wieder installiert. Es wäre doch nett, wenn man etwa im Bahnabteil "Meister Jakob, schläfst du noch ..." summen würde und der mitreisende Abteilnachbar verständnissinnig zwinkern oder gar laut mitsingen würde ...

 
     
     
 
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