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Los von Lüttich - aber wohin?

 
     
 
Es gibt nicht viel Literatur, die über die Autonomiebewegung der Deutschen in Belgien berichtet. Erfreulich ist deshalb eine Neuerscheinung, die in sehr persönlicher Weise an die entscheidenden Jahre 1968–1972 erinnert. Hubert Jenniges, früher Journalist des deutschsprachigen "Belgischen Rundfunks" und Heimathistoriker, hat diese Zeit hautnah miterlebt.

Jenniges beschreibt einfühlsam die Identifikationsschwierigkeiten der Deutschbelgier, die in "Altbelgien" – das sind die schon vor dem Versailler Vertrag
deutschsprachigen Teile Belgiens um Montzen (unweit Aachen), Bocholz (nahe der luxemburgischen Nordgrenze) und Arel (an der luxemburgischen Westgrenze) – und "Neubelgien" (Eupen, Malmedy, St. Vith) zerfallen, geografisch getrennt sind und keinen sinnstiftenden Namen wie Flandern oder Wallonien besitzen. Auch Eupen und St. Vith, die als einzige der deutschsprachigen Gebiete in Form der Deutschsprachigen Gemeinschaft Autonomie erhielten, unterscheiden sich mundartlich und mentalitätsmäßig (Rheinland beziehungsweise Eifel).

Das flüssig geschriebene Buch stellt die Entwicklung Deutschbelgiens seit der Ardennenoffensive dar, ein Trauma, das schon für sich allen Wiedervereinigungsbestrebungen den Boden entzog. Zudem wird wenig Bekanntes aus der Vergangenheit zu Tage gefördert wie der "Bund der Deutschbelgier", der sich seit 1931 für die Pflege der deutschen Kultur in den Provinzen Lüttich und Luxemburg engagierte. Schon 1892 war in Arel der "Deutsche Verein zur Hebung und Pflege der Muttersprache im deutschredenden Belgien" gegründet worden.

Jenniges rechnet in erster Linie mit den – man kommt um den Begriff wohl nicht herum – "Verrätern in den eigenen Reihen" ab. Diese waren vor allem in der vom Autor verabscheuten Christlich-Sozialen Partei (CSP) und ihren "muffigen Hinterstuben" zu finden. Leute wie der CSP-Abgeordnete Schyns wollten geradezu verbohrt beim (frankophonen) Bezirk Verviers und in der Provinz Lüttich verbleiben, der Zweisprachigkeit willen. Bezirkskommissar Hoen, ein Eupener, wollte gar "die letzten Spuren der deutschen Kultur zum Verschwinden" bringen.

Lange Zeit waren die Deutschbelgier sich selber ihre größten Gegner. Von flämischer Seite ist Ende der fünfziger Jahre die Idee einer deutschsprachigen Ostregion lanciert worden, die außer dem Arelerland ganz Alt- und Neubelgien mit dem heute zu Flandern gehörenden Voeren vereinigt hätte. Nicht zuletzt scheiterte das Konzept, weil die meisten Bürgermeister der Montzener Region bei einer Anhörung in Brüssel schlicht zu Protokoll gaben, sie seien französischsprachig. Eine Lüge mit fatalen Folgen.

In Eupen sorgten die Christsozialen weiterhin dafür, daß die, die "schon wieder in Bonn waren", keinen Einfluß gewannen. Dennoch sprachen sich 20 von 22 Bürgermeistern der Region für eine Kulturautonomie aus, wie sie Flamen und Wallonen bekommen sollten. Getragen wurde die neue Linie von reformerischen CSP-Gliederungen in der von Jenniges als innovativ verehrten Eifel, dem St. Vither Landesteil, der von nun auf das assimilationsfanatische Eupener Establishment Druck ausübte.

Die CSP hatte in der Zwischenzeit mehrere bittere Wahlniederlagen einstecken müssen, die sie von über 80 Prozent 1946 auf unter 40 Prozent 1971 dezimierte. Diejenigen, die den Unsinn einer Zweisprachigkeit in Eupen-St. Vith, wo Frankophone kaum mehr als 0,5 Prozent der Bevölkerung ausmachen, nicht mittragen wollten, gründeten schließlich die "Partei der deutschsprachigen Belgier" (PDB). Daß es am Ende zur Gründung der Deutschsprachigen Gemeinschaft und damit zu einer Mischung von Kultur- und Territorialautonomie für Eupen-St. Vith kam, verdanken die Deutschbelgier maßgeblich dem seinerzeitigen flämischen "Gemeinschaftsminister" Leo Tindemans, der auch ein Vorwort zu dem vorliegenden Band verfaßte.

Die deutschbelgische Autonomie führte nicht zu der von vielen Christsozialen befürchteten Hinwendung zu Deutschland. Distanz bestimmt das Bild. Jenniges nennt dies ein "schizophrenes Psychogramm": "Es scheint fast so, als ob alles, was mit Deutsch und mit Deutschland im allgemeinen in Zusammenhang steht, eine Art Phantomschmerz auslöst. Da ist nämlich etwas abgeschnitten worden, aber es ist nicht so richtig nachgewachsen." Diese Schizophrenie spiegelt sich unter anderem in terminologischen Fragen: Als "Deutschbelgier" (analog zu Deutschschweizer) begreifen sich nur noch wenige, als "deutschsprachiger Belgier" hat man im Prinzip die deutsche Volkszugehörigkeit aufgegeben. Und während die Wallonen eine Französische Gemeinschaft haben, gaben sich die Deutschbelgier nur eine politisch korrekte Deutschsprachige Gemeinschaft.

Zu hoffen bleibt, daß Jenniges recht behalten wird, wenn er meint, die Deutschsprachige Gemeinschaft sei keine Finalität. Derzeit diskutiert Belgien wieder über eine neue Stufe der Staatsreform. In Eupen täte man gut daran, Konzepte zu entwickeln, die Deutschsprachige Gemeinschaft neben Flandern, Brüssel-Hauptstadt und Wallonien zur vierten Region fortzuentwickeln und von Wallonien unabhängig zu machen.

Nur sollten dieses Mal auch altbelgische Gebiete einbezogen werden, deren Assimilation in den vergangenen Jahren dramatisch vorangeschritten ist. Zumindest müssten Montzen, Bocholz und Arel den rechtlichen Schutz erhalten, den die Deutschen in den Malmedyer Gemeinden besitzen. Und wenn dieser Minderheitenschutz dann auch noch zur Anwendung käme, könnte man eine ähnlich epochale Kehrtwende schaffen, wie sie in den entscheidenden Jahren 1968–1972 gelang.

Hubert Jenniges: "Hinter ostbelgischen Kulissen. Stationen auf dem Weg zur Autonomie des deutschen Sprachgebiets in Belgien (1968–1972)", Eupen 2001

 
     
     
 
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