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Mit der Idee einer deutsch-französischen Union startet Le Monde einen Versuchsballon

 
     
 
So könnte es im Drehbuch eines historischen Beitrags von ARTE stehen: Titelfigur - Karl der Große/Charlemagne, Ort der Handlung - das Kaiserreich/l empire, Zeit der Handlung - die gute alte Zeit/le temps passé. Damals, vor zwölf Jahrhunderten, lebte das Volk der Franken noch friedlich vereint in einem Staat; erst später sollten daraus Deutsche und Franzosen, Deutschland und Frankreich werden.

Für die große Pariser Tageszeitung Le Monde (zu deutsch: Die Welt) ist das nicht nur ferne Vergangenheit, sondern auch Zukunft. Und zwar gar nicht so ferne. Vor einer Woche ließ das renommierte Blatt einen weltpolitischen Versuchsballon hochsteigen: Auf gut zwei Zeitungsseiten wurde über eine "union franco-allemande" spekuliert, einen deutsch-französischen Staatenbund
innerhalb der Europäischen Union.

Le Monde beruft sich auf hochrangige Quellen. Anfang November, auf einer Veranstaltung des politischen Debattierclubs "En Temps réel", prägte Außenminister Dominique de Villepin den Begriff "union franco-allemande". Premierminister Jean-Pierre Raffarin hielt sich zwar verbal etwas zurück, meinte aber dasselbe, als er wenige Tage später bekundete, die Zeit sei reif für weitere Schritte in den deutsch-französischen Sonderbeziehungen.

Offensichtlich hat es in der französischen Hauptstadt einen starken Eindruck hinterlassen, daß Bun-deskanzler Schröder sich am 17. Oktober in Brüssel von Staatspräsident Chirac vertreten ließ. Viele Beobachter sehen darin einen weiteren Schritt in Richtung Union. Oder, wie Le Monde schreibt: "Pas à pas de l entende à l union."

Ausführlich läßt Le Monde auch den CDU-Abgeordneten Karl Lamers zu Wort kommen, der schon vor Jahresfrist vom "harten Kern" Europas gesprochen und dabei auch auf das historische Vorbild des karolingischen Reiches verwiesen hatte. Die Frage, ob es heute sinnvoll sei, über eine deutsch-französische Union nachzudenken, beantwortet er mit einem klaren "Oui". Allerdings mit der Einschränkung, daß dies nicht gegen Europa gerichtet sein dürfe, sondern als Antrieb für das größere kontinentale Einigungsprojekt angelegt sein müsse.

Lamers und seine französischen Gesprächspartner machen sich in dem Interview auch schon mal ganz konkrete Gedanken, wie eine solche Union organisiert und demokratisch legitimiert werden könnte: Ein Vorschlag: Bundestag und Assemblée nationale setzen eine gemeinsame Parlamentskommission ein, parallel dazu bilden die Regierungen gemeinsame Kabinettsausschüsse, ein- bis zweimal im Jahr trifft man sich zu gemeinsamen Kabinettssitzungen, regelmäßig könnte dem deutschen Kabinett ein französischer Minister angehören - und umgekehrt.

Der französische EU-Außenhandelskommissar Pascal Lamy sieht das deutsch-französische Projekt natürlich eher aus Brüsseler Perspektive. Er verweist auf die unterschiedlichen Strukturen - hier das föderalistische Deutschland, dort das zentralistische Frankreich - und findet auf die Frage, für was ein "Bund franco-allemande" denn überhaupt zuständig sein könnte, eine gradezu salomonische Antwort: "ce que l Europa et les Länder allemands ne font pas", also alles, was auf der einen Seite Europa, auf der anderen Seite die deutschen Bundesländer nicht tun.

Im wesentlichen sind das die Sicherheits- und die Außenpolitik. In der Tat bietet letztere zur Zeit die realistischsten Ansatzpunkte für ein engeres Zusammenrücken von Berlin und Paris. Insbesondere der IrakKrieg hat die beiden Partner einander näherrücken lassen. So fällt es Schröder und Chirac heute relativ leicht, frühere Verstimmungen vergessen zu machen; Le Monde erinnert in diesem Zusammenhang süffisant an die EU-Gipfel von Berlin (1999) und Nizza (2000), als Beobacher nicht ohne Grund von einer deutsch-französischen Eiszeit sprachen. Die gemeinsame Ablehnung der amerikanischen Irak-Politik aber hat beiden Seiten zu der Einsicht verholfen, daß man sich nur mit einer gemeinsamen Stimme Gehör verschaffen kann. Und zwei Partner können sich nun einmal leichter auf eine Tonart verständigen als 15 oder gar 25. In Paris heißt es dazu unverhohlen und selbstbewußt: deutsch-französische Außenpolitik möglichst gemeinsam mit den anderen Partnern, notfalls aber auch ohne (sprich: gegen) sie. In Berlin ist man da etwas vorsichtiger; mag die Liebe zwischen Michel und Marianne noch so groß sein, zugleich will man "everybodies darling" sein.

Neben der Außenpolitik schmieden auch Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik die beiden Partner diesseits und jenseits des Rheins enger aneinander, wenn auch im Moment eher indirekt. Zwar kann von einheitlichen Zukunftsentwürfen im Detail noch längst keine Rede sein. Immerhin aber findet man sich gemeinsam auf der europäischen Währungssünderbank - das verbindet ebenso wie die vielen gleichen oder ähnlichen Problemstellungen. In Deutschland wie in Frankreich müssen die Sozialsysteme reformiert werden, da sie in der Vergangenheit zu stark belastet wurden. Auch wenn jedes Land hier seinen eigenen Weg geht. Jeder könnte doch vom anderen einiges lernen. So gibt es durchaus konkrete politische Projekte, bei denen wir Deutschen uns ein Beispiel an unseren westlichen Nachbarn nehmen sollten. Man denke etwa an die offensive, mittelstandsfreundliche Reduzierung der Mehrwertsteuer, die für viele Handwerks- und Handelsbereiche von 19,6 auf fünf Prozent gesenkt wurde. So kann man die Wirtschaft ankurbeln und zugleich die Schwarzarbeit wirksam bekämpfen. Ein weiteres Feld, auf dem die Franzosen Vorbildliches zu bieten haben, ist die Familienpolitik. Und schließlich ist Familienpolitik langfristig die beste und wirkungsvollste Sozialpolitik!

Der von Le Monde gestartete deutsch-französische Versuchsballon erhält zusätzlichen Auftrieb durch eine Reihe von Umfragen in beiden Ländern. So wird - nicht ohne den einer "grande nation" eigenen Stolz - gemeldet, für 56 Prozent der Deutschen sei heute Frankreich der zuverlässigste Partner, auch und gerade in Krisenzeiten.

Natürlich kann sich das französische Hauptstadt-Blatt den einen oder anderen antiangelsächsischen Seitenhieb nicht verkneifen. Londons Premier Tony Blair wird im Zusammenhang mit dem jüngsten Tête-à-tête zwischen Berlin und Paris als getreuer Vasall Washingtons erwähnt.

Und dann bescherte der Zufall den Franzosen einen zusätzlichen Gag: Während die ersten drei Seiten der Ausgabe vom 13. November ganz im Zeichen der "union franco-allemande" stehen, erfährt der Leser auf der Schlußseite, daß Le Monde derzeit in Großbritannien nicht ausgeliefert, faktisch also zensiert wird. Dies freilich nicht, um englischen Lesern den Schrecken einer deutsch-französischen Allianz zu ersparen - die Pariser hatten sich lediglich über ein Londoner Gerichtsurteil hinweggesetzt, das Schmuddelstorys über Prinz Charles verboten hatte.

Auf den Spuren Karls des Großen: Die Titelseite der Pariser Tageszeitung Le Monde am 13. November.
 
     
     
 
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