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Zwischen den Fronten

 
     
 
Wenn wir uns in unserer gegenwärtigen Lage und aus unserer heutigen Sicht mit Ostdeutschland befassen, so setzt dies eine möglichst zutreffende Kenntnis der russischen Geschichte wie auch der russischen Mentalität voraus. Mit den folgenden Überlegungen soll daher das Verhältnis zwischen Preußen und Rußland beleuchtet werden. Es mag erstaunen, aber es ist unerläßlich, zunächst den Blick nach Westen zu richten.

Sieht man einmal von Frankreich ab, dessen expansion
istische Rheinpolitik und dessen Napoleonisches Hegemonialstreben zu einer militärischen Konfrontation mit Preußen und dem Reich führen mußte, so erfährt Preußen im angelsächsischen Bereich trotz der Allianzen sehr früh Ablehnung. Die Gründe hierfür liegen in den konträren Staatsauffassungen, in den unterschiedlichen Fundamenten der Wertsetzungen und in den philosophisch unvereinbaren Menschenbildern. Der englische Staat ist ein mechanistischer Apparat, der nach utilitaristischen und pragmatischen Prinzipien konstruiert ist. Ihm fehlt der metaphysische Bezugshorizont. Der Staat im preußischen Verständnis ist dagegen ein Organismus, der seine Lebendigkeit aus der Mitwirkung der einzelnen Beteiligten auf unterschiedlichsten Ebenen bezieht. Hatte der Engländer Thomas Hobbes in seinem Leviathan (1651) den Staat als eine Institution beschrieben, in der nur die Machtfülle des Souveräns den permanenten Kampf der menschlichen Wölfe gegeneinander unterbindet, so geht das preußische Staatsverständnis unter dem Einfluß von Pufendorf, Fichte und Hegel davon aus, daß die Individuen sich ergänzen und in der Erkenntnis eines höheren Gemeinwohles handeln. Dem uneingeschränkten Streben des einzelnen im angelsächsischen Modell - heute „Selbstverwirklichung“ genannt - steht nach preußischem Verständnis die Sozialethik eines Immanuel Kant entgegen. Und die ungehinderte Entfaltung wirtschaft- licher Kräfte im Sinne des englischen Liberalismus, so wie sie gegenwärtig in Form eines erd-umspannenden Globalismus ihren Höhepunkt zu erreichen scheinen, unterscheidet sich kraß von der Unterordnung der Ökonomie unter die Belange des Staates als Ausdruck einer harmonischen Ganzheit. Dem in Frankreich und England praktizierten administrativen und wirtschaftlichen Zentralismus steht die Idee der kommunalen Selbstverwaltung diametral entgegen.

Derartige Gegensätze sind nicht etwa nur philosophisches Spielmaterial, sondern sie haben in der politischen Praxis im Verein mit wirtschaftlichen Rivalitäten zu einer extremen ideologischen Gegnerschaft geführt. Die weltanschauliche Ablehnung Preußens im angelsächsischen Denken läßt sich weit hinter das 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Zwar geht man mit Preußen im Kampf gegen die Napoleonische Vorherrschaft noch ein Zweckbündnis ein, aber alle Kräfte der englischen Politik wissen sich einig in der grundsätzlichen Ablehnung der preußischen Idee. Friedrich Wilhelm von Steuben (1730 bis 1794) kann zwar als Generalinspekteur und zeitweilig sogar als Generalstabschef Washingtons die nordamerikanische Armee reformieren und siegreich gegen die Engländer führen. Aber ihn begleitet stets der Argwohn, daß er einen dem amerikanischen Geist fremden preußischen etabliert. Dieses Mißtrauen und die unterschwellige Ablehnung ist letztendlich auch der Grund für seinen enttäuschten Abgang in das Privatleben. Wenn man Churchills Autobiographie liest, so könnte man zur Ansicht kommen, daß Großbritannien den Zweiten Weltkrieg gegen Preußen geführt hat und Hitler lediglich eine Randerscheinung gewesen ist. Dies erklärt auch die Eile, mit der durch Kontrollratsbeschluß Nr. 46 vom 28. Februar 1947 Preußen völkerrechtswidrig für aufgelöst erklärt wurde. Daß hiermit etwas durchgeführt wurde, was bereits auf dem Programm der Westalliierten stand, geht aus der Mantelnote zum Versailler Vertrag vom 16. Juni 1919 hervor: „Die ganze Geschichte Preußens ist durch den Geist der Beherrschung, des Angriffs und des Krieges charakterisiert. Hypnotisiert durch den Erfolg, mit welchem Bismarck, der Tradition Friedrich des Großen folgend, die Nachbarn Preußens beraubte und die deutsche Einheit durch Blut und Eisen schmiedete, unterwarf sich das deutsche Volk nach 1871 vorbehaltlos dem Einfluß der Führerschaft seiner preußischen Herren.“ Welche Konstanz derartige Denkmuster aufweisen, zeigte sich anläßlich der deutschen Teilwiedervereinigung: Englische Zeitungen druck-ten Karikaturen, die Kanzler Kohl in preußischer Uniform mit Pik-kelhaube zeichneten, obgleich der Rheinpfälzer Kohl soweit davon entfernt ist, ein Preuße zu sein, wie etwa Bonn von Berlin entfernt liegt.

Als Enkel Adenauers hatte Kohl den antipreußischen Geist rheinländischen Denkens bereits bis zum Sättigungsgrad aufgenommen. So schreibt z. B. Konrad Adenauer am 26. Mai 1946 an den Kaplan Johannes Weber in Wahn (Rhöndorfer Adenauer Ausgabe, Siedler Verlag, 1955, S. 255 f.): „Die Frage der Unterbringung der Ostflüchtlinge ist eine sehr schwierige und ernste Angelegenheit. Einerseits müssen wir möglichst gut gegen sie sein, auf der anderen Seite aber dürfen wir, wie Sie mit Recht ausführen, nicht den preußischen Geist in unsere rheinische Jugend pflanzen. Wir müssen versuchen, sie zu assimilieren und sie unserer Geisteshaltung einzufügen. Eine Häufung von Ostflüchtlingen in führenden Stellen darf natürlich keineswegs vorkommen.“ (Bereits nach 1918 gibt es Bemerkungen in dieser Richtung, die ein bezeichnendes Licht auf die westdeutsche Politik nach 1945 werfen. So kommen auf Einladung des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer - Zentrumspartei - am 1. Februar 1919 in der Domstadt Politiker verschiedener Parteien zusammen, um die Gründung einer „Rheinischen Republik“ zu erörtern. Adenauer beschwört die Anwesenden: „Nach den Erfahrungen, die Deutschland mit dem Hegemonialstaat Preußen gemacht hat, nachdem die Hegemonie Preußens nicht zufällig, sondern als notwendige Folge eines Systems zum Zusammenbruch geführt hat, wird Preußens Hegemonie von den anderen Bundesstaaten nicht mehr geduldet werden ... In der Auffassung unserer Gegner ist Preußen der böse Geist Europas ... Preußen wurde nach ihrer Meinung von einer kriegslüsternen, gewissenlosen militärischen Kaste und dem Junkertum beherrscht, und Preußen beherrschte Deutschland, beherrschte auch die in Westdeutschland vorhandenen, nach ihrer ganzen Gesinnungsart an sich mit den Entente-Völkern sympathisierenden Stämme. Würde Preußen geteilt werden, die westlichen Teile Deutschlands zu einem Bundesstaat, der ,Westdeutschen Republik’, zusammengeschlossen, so würde dadurch die Beherrschung Deutschlands durch ein vom Geist des Ostens, vom Militarismus beherrschtes Preußen unmöglich gemacht; der beherrschende Einfluß derjenigen Kreise, die bis zur Revolution Preußen und damit Deutschland beherrscht haben, wäre endgültig, auch für den Fall, daß sie sich von der Revolution wieder erholten, ausgeschaltet!“ Durch den Kontrollratsbeschluß sollte der Kampf gegen die preußische Ordnungswelt seine Vollendung gefunden haben: „Der Staat Preußen, der von jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört.“

Die These von der Notwendigkeit der Auflösung Preußens zur Sicherung des Völkerfriedens hat sich vor dem Hintergrund der zahlreichen Kriege nach 1945, seien es nun Stellvertreterkriege oder tatsächliche Kriege, als eine mit Friedensargumenten drapierte Propagandawaffe erwiesen. Bereits ein vorurteilsfreier Blick auf die Kriege der europäischen Mächte in der Zeit von 1870/71 bis 1914 läßt die Unhaltbarkeit einer derarti- gen These erkennen. Preußen/ Deutschland führte in dieser Zeit vier Kriege: den deutsch-französischen Krieg, einen Krieg in Südwestafrika, einen unrühmlichen Krieg in China - und diesen zusammen mit Großbritannien, Frankreich und Japan - sowie den Ersten Weltkrieg. Wenn eine Philosophie starken Einfluß auf das Denken Preußens genommen hat, dann ist es die Lehre Kants. In seiner „Schrift vom ewigen Frieden“ hat Kant die Weltharmonie eines aufgeklärten und rational handelnden Menschentums entworfen. Diese Schrift ist sowohl Ausdruck grundsätzlichen preußischen Denkens als auch gleichzeitig zukunftweisende Leitlinie preußischen Bewußtseins: Preußen war seiner Staatsdoktrin nach alles andere als militaristisch. Der Kasernenhof und die Armee als Schule der Nation mögen durchaus eine Rolle gespielt haben, aber sie waren nicht die entscheidenden Triebkräfte des politischen Handelns. Eher noch spiegeln sie die Ideen der französischen Aufklärung, die das Konzept des Volksheeres propagierten. Das sich demokratisch und liberal darstellende Großbritannien führte dagegen in der Zeit von 1870 bis 1914 nicht weniger als 84 größere Kriege, wobei spezielle militärische Aktionen in den eroberten Kolonien und Gebieten dabei erst gar nicht mitgezählt werden.

Carl von Clausewitz (1780- 1831), der sich so viele Gedanken über den Krieg gemacht hat, war eben kein Kriegstheoretiker, sondern ein Denker, der das letzte und absolute Mittel der Staatskunst zu definieren trachtete. Der Krieg sollte nicht gängiges Mittel der Politik sein, sondern das letzte Instrumentarium des Staates im Sinne der Selbstbehauptung. Schon die Kanonen des frühen Preußen trugen die Inschrift Ultima ratio regis - der königlichen Weisheit letzter Schluß. Auch der Vorwurf, daß sich Preußen mit einem unseligen Kadavergehorsam verbindet, hat bei näherer Betrachtung keine faktische Grundlage. Auf dem Friedhof in Großrietz, Kreis Beeskow-Storkow in der Mark Brandenburg, liegt die Grabstätte von Ludwig von der Marwitz, der hier seinen Besitz hatte und zu den eigenwilligsten und geistvollsten Männern des alten Preußens zählte. In der Kirche findet sich als Inschrift eine Aussage von ihm, die den Urgrund preußischen Denkens freilegt: Sah Friedrichs Heldenzeit und kämpfte mit ihm in allen seinen Kriegen, wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre machte.

Dies ist nicht etwa ein isoliertes Einzelbeispiel. In diesem Sinne hat auch Heinrich von Kleist sein Bekenntnis abgegeben: „Ich trage in meiner Brust eine innere Verpflichtung, der gegenüber jede äußere nichtswürdig ist, und wenn sie ein König unterschrieben hätte.“ Und der spätere preußische Feldmarschall York von Wartenburg (1759-1830) bot seinem König im wahrsten Sinne des Wortes seinen Kopf an, weil er aus seinem Gewissen heraus im militärischen Sinne ungehorsam war. 1779 wurde er wegen Ungehorsams zu Festungshaft verurteilt. Als er wieder in der preußischen Armee arriviert war, schloß er am 30. Dezember 1812 mit den Russen die Konvention von Tauroggen, die das preußische Korps neutralisierte und den vom König gar nicht vorgesehenen Abfall von Napoleon einleitete.

Untersucht man die Vorgeschichte des Kontrollratsbeschlusses über die Auflösung Preußens, so muß man erstaunt feststellen, daß die Initiative von den Westalliierten ausging und die Sowjetunion in dieser Hinsicht gar keine Eile an den Tag legte. Sie mußte sich in dieser Frage auch etwas zurückhalten, hatte sie doch selbst noch nach Stalingrad bewiesen, daß sie die preußischen Ideale sehr wohl verstehen und zur Gründung des „Bundes Deutscher Offiziere (BDO) zu instrumentalisieren wußte. Auch bei der Gründung des „Nationalkomitee Freies Deutschland“ verstand man es sehr gut, unter den Farben Schwarz-Weiß-Rot die preußischen Werte zu mobilisieren. Und nicht zuletzt hatte Karl Marx den preußischen Staat stets als ein Beispiel modernen Gemeinwesens hervorgehoben. Wie die Arbeit eines jüngeren Historikers namens Olaf Rose unlängst nachgewiesen hat, rezipierte Lenin Clausewitz nicht nur auf deutsch, sondern er kommentierte ihn auch. Noch erstaunlicher ist das Ergebnis, daß der sowjetische Generalstab während des gesamten Krieges die Prinzipien von Clausewitz beachtete. Dagegen setzte sich der deutsche Generalstab offensichtlich über Clausewitz hinweg, denn dieser hatte vor dem Hintergrund Napoleonischer Erfahrungen immer wieder betont, daß Rußland aufgrund seines Raumes und seiner Ressourcen nicht besiegbar ist. Zwar spielte die aggressive Polemik gegen das „preußische Junkertum“ in der sowjetischen Propaganda eine zentrale Rolle, und die satirische Zeitschrift der Sowjet-union, „Das Krokodil“, lieferte mit seinen Karikaturen unzählige Zerrbilder des preußischen Junkers, aber es fällt gleichzeitig auf, daß das Verhältnis zu Preußen äußerst ambivalent war. Selbst in der DDR erlangte die verordnete Verehrung der preußischen Reformer ein mentales Entwicklungsstadium, das über die bloße staatsfördernde Instrumentalisierung hinausging.

). Schon von ihrer geopolitischen Lage her sind Deutschland und Rußland weitaus mehr als andere europäische Märkte aufeinander bezogen. Beide Länder können auf lange Epochen fruchtbaren Zusammenwirkens zurückblicken, in denen nicht nur Handelswaren ausgetauscht wurden, sondern auch Können, Wissen und Sympathie. In den tausend Jahren gemeinsamer Geschichte fühlten sich Menschen aus beiden Völkern mit einer merkwürdigen Intensität zueinander oder zum Land des anderen hingezogen. Neben sachlichen Kontakten zeichnet sich immer noch eine mit dem Verstand nicht zu erfassende wechselseitige Attraktion ab, der Wunsch, Wesen und Geist des anderen zu erfassen, den Menschen zu erleben, der sich so unverkennbar in der Musik, der Literatur, den bildenden Künsten offenbart. Als Bismarck 1862 kurzfristig zum Botschafter in Paris ernannt wurde, geriet seine Ehe in Gefahr, weil sich dort eine Seelengemeinschaft mit einer attraktiven und geistvollen Russin anbahnte. Preußen war die Kraft des deutschen Bereiches, die sich am engsten mit Rußland berührte.

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Versuchter Brückenschlag in schwerer Zeit: Königin Luise, hier von Napoleon geleitet, der russische Zar Alexander und der zögerlich taktierende Friedrich Wilhelm in Tilsit. Nach einem zeitgenössischen Gemälde

 
     
     
 
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