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Moderne Gretchenfrage

 
     
 
Damals, bei Goethe, war die Welt zwar auch nicht mehr ganz in Ordnung, zumindest aber etwas einfacher strukturiert. Gretchen genügte eine, nämlich die nach ihr benannte Frage („Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“), und schon glaubte sie, über Charakter und Gesinnung des Doktor Faustus Bescheid zu wissen. Ein verhängnisvoller Irrtum, wie sie bald erfahren sollte.

Um zu ähnlichen Enttäuschungen zu kommen, bedarf es heute nicht einer, sondern 30 Gretchenfragen. Nachzulesen in einem von der baden-württemberg
ischen Landesregierung verfaßten „Leitfaden“, mit dem künftig Verfassungstreue und Integrationsbereitschaft ausländischer Bewerber um die deutsche Staatsangehörigkeit getestet werden sollen. Gezielt richtet sich der Fragebogen an Menschen aus den 57 Mitgliedsländern der Islamischen Konferenz, woraus der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Nadeem Elyas, folgert, es handele sich um eine „gesetzeswidrige Diskriminierung“. Innen- und Justizminister in Stuttgart hingegen glauben, damit einen wirkungsvollen Beitrag zum Schutz vor Islamisierung zu leisten.

Aber da haben wohl beide Seiten die Sache etwas zu hoch gehängt. Einige Fragen sind nach einem so simplen Muster gestrickt, daß die der Einbürgerung förderliche Antwort bereits vorgegeben ist. So dürften die weitaus meisten Muslime kaum in unauflösbare Gewissenskonflikte geraten, wenn sie Mord und Totschlag ablehnen. Und die wenigen, die anders denken, werden das nicht öffentlich zugeben – oder sind an Integration und deutschem Paß ohnehin nicht interessiert.

Bei anderen Fragen erschließt sich der tiefere Sinn erst recht nicht. Wie soll ein Sachbearbeiter in einer Einbürgerungsbehörde entscheiden, wenn er – Frage 30 – in Erfahrung gebracht hat, ob der Antragsteller sich für homosexuelle Politiker erwärmen oder einen schwulen Sohn akzeptieren kann? Was soll das mit seiner Integrationsbereitschaft und -fähigkeit zu tun haben?

Außerdem: Wie verhält es sich diesbezüglich eigentlich bei Einheimischen, die – etwa weil sie sich als betont wertkonservativ verstehen – Klaus Wowereits öffentliches Kokettieren mit seinen ganz privaten Neigungen vielleicht nicht so gut finden? Sind sie nicht mehr würdig, Deutsche zu sein? Werden sie gar ausgebürgert?

Wie so oft, kann auch hier das Beispiel Preußen durchaus lehrreich sein. Das Edikt von Potsdam, das 1685 die Aufnahme Tausender französischer Glaubensflüchtlinge regelte, kam ohne Fragebögen aus. Die Integration der Hugenotten gelang ebenso wie die Entwicklung eines freien, offenen Geisteslebens im 18. Jahrhundert, vor allem unter der Regentschaft Friedrichs des Großen, ohne Gesinnungsschnüffelei.

Allerdings war Toleranz nach preußischem Verständnis weder eine „Einbahnstraße“ noch ein Zeichen von Schwäche. Das ist es, woran unser Vaterland heute krankt. Selbstbewußtsein, aber ohne Überheblichkeit; Wehrhaftigkeit und Stärke, aber ohne Aggressivität; Toleranz und Verständigungsbereitschaft, aber ohne unterwürfige Anbiederei – solche Grundwerte sollten wir zuerst einmal bei uns abfragen. Wir selber – und dann natürlich auch jeder, der einer der unseren werden will – müssen diese Werte leben. Das aber geht über Lippenbekenntnisse als Antwort auf moderne Gretchenfragen weit hinaus.
 
     
     
 
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