|  | Auch die Hände eines     Chirurgen behalten ihre Sicherheit nicht grenzenlos, so sehr sich vielleicht auch sonst     die Einsicht über das operative Verfahren vergrößert. Bei einem leibhaftigen Dichter     dürfte es ähnlich sein. Karl Krolow, der in der letzten Woche mit 86 Jahren an den     Folgen einer Lungenentzündung in Darmstadt starb, gehörte so sehr zum dichterischen     Urgestein der Nachkriegszeit, daß der Dichterkollege Johannes Bobrowski  schon leicht     hämen konnte: "Er hat zu jedem Feste das passende Angebot Verse." Immerhin es     ist umgekehrt keine Kleinigkeit, sich über Jahrzehnte hin auf dichterischen Wegen ohne     Absturz zu bewegen und zugleich die Existenz einigermaßen hinreichend materiell damit     sichern zu können. Denn Prosa gehörte nicht unbedingt zu seinem Repertoire, Rezensionen,     Übersetzungen und Essays schon. 
 Das Studium der Romanistik, Kunstgeschichte und Germanistik in Göttingen und Breslau     führten den aus einer kulturell aufgeschlossenen Beamtenfamilie Stammenden zunächst zu     Übersetzungen in die Geisteswelt unse- res westeuropäischen Nachbarn Frankreich, bis er     1940, mitten im Kriege, seine ersten Gedichte veröffentlichte. Das Bewußtsein, sich     beruflich durchaus auf berufenem Pfade zu bewegen, muß so stark gewesen sein, daß er     1943, der Krieg dauerte bekanntlich immer noch an, sich zu freiberuflicher Tätigkeit nach     einer Veröffentlichung mit einem ersten kleinen Gedichtband bei Ellermann entschloß.
 
 Die politischen Umbrüche gingen gewiß nicht spurlos an ihm vorüber. Doch wenn davon     wenig in seinen Gedichten zu spüren ist, so liegt dies wohl trotz gegenteiliger     Beteuerung daran, daß die "blutige oder unblutige Drastik", die Politik also     mit ihren Realien, nur eine Episode in seinem Schaffen über die Jahrzehnte hin war. Denn     Krolow, der sich früh an den Werken eines Oskar Loerke schulte, einem Verfechter damals     moderner Naturlyrik, blieb diesem keineswegs über längere Zeit verpflichtet, weshalb er     ohnehin kaum als "Naturlyriker" zu klassifizieren wäre.
 
 Der Germanist Rolf Paulus verwies darauf, wer mit Gottfried Benn jene Gattung polemisch     als "Bewispern von Gräsern und Nüssen" abzutun können glaubt, versteht kaum,     mit welcher Respektierlichkeit in den fünfziger Jahren der Lyrik gerade in jenem Genre     noch begegnet wurde. Krolow gelang zudem, weit noch über neoromantische Ansätze hinaus,     eine Art von Kosmogonie zu schaffen, bei der der Mensch nicht nur im Spannungsfeld von     Zeit und Raum verbleibt, sondern in das Geschehen der Natur, hier genommen im     umfassendsten Sinne, insgesamt verwoben bleibt "in einem Himmel aus Schaum, / Heil     und mit kindlichen Zügen". Es gehört zu den Eigentümlichkeiten Krolowscher     Dichtung, daß er trotz ausgiebiger romanistischer Studien, die ihm den Broterwerb mit     Übersetzungen ermöglichten, nur kurzzeitig Nachkriegsanleihen in Spanien oder Frankreich     nahm. Ausgeprägte Existenzthematik war ohnehin nicht Krolows Sache, "verlassene     Küsten", denen "Segelschiffe und Gelächter" fehlten, schon eher, die ihn     mit dem Fabeldichterkollegen Petronius freilich zeitweilig zu der bitteren Einsicht     führen: "Wenn man es recht besieht, / so ist überall Schiffbruch."
 
 Doch eine über Jahrzehnte währende Dichterexistenz kann kaum in Lethargie und     Fatalismus verharren, denn wem der "Sommer" mit "leichter Hand"     windlos Pappellaub auf "die Haut sät", der ist längst wieder im Banne einer,     seiner, selbstgeschaffenen Kosmogonie, die im Stirb und Werde, im Blühen und Vergehen ihr     ewiges Wiederkehren übt und aus jener Beständigkeit "Hartnäckigkeit" nimmt     und "eiserne Labilität" nährt.
 
 Daß zu einem solchen Schauen auch das Überschauen und das Wissen von der     Schattenseite des Lebens, dem Tod, gehört, versteht sich von selbst. Die frühe Übung     darin, der "Schöne Dank und vorüber", fand mit der Fortdauer der Existenz bald     seinen Ausdruck in "Die zweite Zeit" und endlich ein "Fortgehen", das     sein Ende so ganz hoffnungslos nicht findet: "Das Alter aber sehnt sich / hinüber     und hinüber. / Es nimmt die andere Richtung / und lächelt nicht drüber / nennt es am     Ende Dichtung."
 
 
 Lesen
 von Karl Krolow
 
 Ich habe alles liegengelassen. Mein Schatten hinter mir wandert langsam von Norden nach     Osten. Meine Erinnerung endet am Rande des Buches. Langsam neben mir trocknet das Wasser.
 
 Ohne Vorwurf vergeht die Zeit. Sie ist eine vollkommene Geschichte ohne Fluchtpunkt,     auf den man zugehen könnte, um etwas zu finden.
 
 Aus: Nichts weiter als das Leben. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1970.
 
 
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