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Nato-Vertrag mit US-Schutz

 
     
 
Am 16. Januar unterzeichneten in Washington die Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und der Republiken Estland, Lettland und Litauen eine "Charta der Zusammenarbeit". Für die Balten, die vergeblich darauf gehofft hatten, schon während der ersten Verhandlungsrunde des Nordatlantikpaktes mit den beitrittswilligen Staaten Mittel- und Ostmitteleuropas am Konferenztisch Platz nehmen zu können, ist diese Charta von großer – nicht nur symbolischer – Bedeutung. Prof. Dr. Rein Helme (Reval) analysiert für Das die sicherheitspolitischen Aspekte des Vertrages und das Echo auf dessen Unterzeichnung. Der Historiker Helme war im ersten frei gewählten Parlament nach der wiedergewonnenen Freiheit Vorsitzender des Verteidigungssausschusses. Heute ist Hauptmann Helme offizieller Berater des Oberbefehlshabers der Estnischen Streitkräfte.

Die vier Staatsoberhäupter, die Mitte Januar im Weißen Haus die "Charta der Zusammenarbeit" unterzeichneten, waren sich dessen durchaus bewußt, daß es in der Welt politische Mächte gab, denen der Abschluß eines solchen Partnerschaftsvertrag
es der USA mit den Baltischen Staaten gegen den Strich gehen mußte. Da jedoch die Beteiligten sämtliche zwischen ihnen stehenden Probleme ausräumen konnten, blieb den Kritikern nur ein mißmutiges Stirnrunzeln übrig.

Für uns Balten, wie wir Esten, Letten und Litauer heute allgemein bezeichnet werden, ist folgender Kernsatz der Charta von immenser Bedeutung: "Die Vereinigten Staaten haben ein gewichtiges, fundamentales und dauerhaftes Interesse an der Unabhängigkeit, der Souveränität sowie an der territorialen Unversehrtheit und der Sicherheit Estlands, Lettlands und Litauens."

Obwohl es sich bei der Charta nicht um eine vertraglich verbindliche Sicherheitsgarantie handelt, fühlen wir uns seit dem 16. Januar sicherer. Zwar sind wir noch nicht Mitglied der Europäischen Union oder der Nato, doch befinden wir uns nun nicht mehr in einem Sicherheitsvakuum.

In der Charta heißt es: "In Europa kann es keine völlige Sicherheit geben, solange nicht Estland, Lettland und Litauen in Sicherheit sind."

An dieser Aussage gibt es nichts zu deuteln. Ebenso nicht daran, daß in der Charta den Baltischen Staaten zugesagt wird, die völlige Integration unserer Staaten "... in die europäischen und transatlantischen politischen, wirtschaftlichen sowie Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen" zu unterstützen und diese Bestrebungen zu fördern. Zugleich wird in der Charta die Nato-Erweiterung begrüßt.

Damit entspricht diese Charta uneingeschränkt den Sicherheits- und Integrationsbestrebungen der Baltischen Staaten. Wichtig ist dabei, daß die Vereinigten Staaten, die überall in der Welt Verantwortung tragen, auch eine Erfüllung ihrer eigenen Interessen in der Charta sehen. Für sie gibt es jetzt einen potentiellen Krisenherd weniger in der Welt, und genau das nennen wir Herstellung von Sicherheit. Alle brauchen Sicherheit. Sogar eine Großmacht wie die USA.

Aber auch für Rußland gibt es keinen Grund, unzufrieden oder gar besorgt zu sein. Wie könnten denn auch wirtschaftlich hochentwickelte und politisch stabile Zwergstaaten an seiner Grenze dessen Interessen gefährden? Oder fühlt man sich dort beleidigt darüber, daß diese Staaten heute Rußland den Rücken zukehren und sich mehr an westlichen Vorbildern orientieren? Es ist an der Zeit, daß sich russische Politiker mit der Tatsache abfinden, daß sich ein Imperium wie das der Sowjetunion nie mehr wiederholen und auch nie wieder neu geboren wird.

Die Baltischen Staaten haben wohlüberlegt in aller Gelassenheit und mit aller Deutlichkeit die von Moskau angebotenen Sicherheitsgarantien abgelehnt. Unsere Staaten haben viel zu lange mit ihrem Nachbarn im Osten zusammenleben und dafür einen blutigen Preis bezahlen müssen. Jetzt muß sich Rußland mit unserer abweisenden Haltung abfinden.

Außerdem: Wäre es nicht geschickter und einer freundlichen Atmosphäre förderlicher gewesen, wenn Rußland vor dem Angebot der Sicherheitsgarantien die von Estland und Lettland langersehnten Grenzverträge im Interesse gutnachbarlicher Beziehungen unterschrieben hätte?

Statt dessen irrt der stellvertretende russische Außenminister Aleksandr Awdejew in der Geschichte umher und versucht aller Welt weiszumachen, daß die blutige Okkupation und Annektion dem freien Willen der baltischen Völker entsprochen habe. Verzeihung, aber eine solche Interpretation der geschichtlichen Wahrheit ist eines Staatsmannes unwürdig und ruft nur Überdruß hervor: Herrschaften, legt endlich eine andere Platte auf!

Ist die Charta ein Ersatz für die Nato-Zugehörigkeit der Baltischen Staaten? Nein, das zwar nicht, aber in diesem Vertrag sind immerhin recht detailliert nicht nur die Grundsätze aufgeführt, auf deren Grundlage die Integration erfolgen soll, sondern auch Handlungsmechanismen für den Fall einer Gefahr.

Wichtig für uns ist insbesondere folgende Passage: "Die Partner sind davon überzeugt, daß die Nato-Erweiterung zur Sicherheit der Vereinigten Staaten, Kanadas und aller europäischen Staaten beitragen würde – einschließlich zur Sicherheit jener Staaten, die zunächst nicht zur Mitgliedschaft eingeladen wurden oder zur Zeit nicht an einer Mitgliedschaft interessiert sind."

Gleichzeitig legt die Charta einige Vorbedingungen für den Beitritt fest: "Die Vereinigten Staaten bekräftigen ihren Standpunkt, daß jeder Bewerber Mitglied der Nato werden kann, wenn er beweist, daß er die Verantwortungen und Verpflichtungen übernehmen kann und übernehmen will, nach denen die Nato entscheidet, daß die Einbeziehung dieses Staates der Stabilität in Europa und den strategischen Interessen der Allianz dient." Ronald Asmus, der Berater der US-Regierung in Sachen Baltikum, der wesentlich an der Abfassung des Vertragstextes beteiligt war, hat es einfach und deutlich gesagt: "Die Baltischen Staaten müssen sich den Status eines Nato-Mitglieds selbst erkämpfen."

Damit wir Balten diesen Kampf erfolgreich bestehen können, haben uns die Vereinigten Staaten über verschiedene Stiftungen Hilfen zugesagt. Ratgeber dieser Stiftungen und Militärberater anderer Nato-Länder werden in diesem Zusammenhang kostenlos für die Ausbildung von Offizieren, Beamten und sogar Politikern in den Nato-Staaten sorgen.

Mit Genugtuung stellen wir fest, daß einige Artikel der Charta nahtlos mit vergleichbaren im Text der Gründungsakte des Nordatlantikpaktes – mit dem Washingtoner Vertrag von 1949 – übereinstimmen. So ist deren Paragraph 4 nahezu wortgleich in den Artikeln über die Sicherheitskooperation der neuen Charta übernommen werden. Danach konsultieren die Partner einander, falls einer von ihnen feststellt, daß seine territoriale Unversehrtheit, seine Unabhängigkeit oder seine Sicherheit gefährdet ist. Dabei ist von besonderer Bedeutung, daß es zum Beispiel für Estland genügt, wenn es selbst feststellt, einer Gefahr ausgesetzt zu sein.

Von hier aus ist der Weg zum Paragraph 5 des Nato-Vertrages von 1949 nicht weit, der festlegt, daß der bewaffnete Angriff auf einen Nato-Staat oder auf mehrere Mitgliedsstaaten der Nato als Überfall auf alle Vertragspartner angesehen wird. Ein solcher Vertrag besteht übrigens schon längst zwischen den Baltischen Staaten.

Damit unsere Staaten allmählich die Nato-Tauglichkeit erlangen können, haben die Charta-Partner beschlossen, jene umfangreichen Kooperationsprogramme weiter auszubauen, die jetzt schon unter Nato-Koordinierung von den nordischen Staaten unterstützt werden – wie zum Beispiel BALTBAT, die von Dänemark betreute gemeinsame baltische Friedenstruppe in Bosnien, wie das von Norwegen betreute gemeinsame Luftraumüberwachungssystem BALTNET und wie die gemeinsame Marinedivision BALTRON, für die sich die deutsche Bundesmarine engagiert.

Durch solche Projekte entwickelt die Nato die waffentechnische, logistische und personelle multinationale Einsatzfähigkeit. In dieser Hinsicht haben wir noch viel zu lernen.

Natürlich gibt es auch Stimmen, welche den Wert der Charta als bescheiden einschätzen. Der ehemalige stellvertretende Unterstaatssekretär für Verteidigung der USA, Dov Zakheim, findet in der Charta wenig Konkretes. Sie gebe den Baltischen Staaten nur die Möglichkeit, Moskau gegenüber zu demonstrieren, daß Washington an ihrer Seite sei. Die Charta selbst würde nur eine gewisse Sicherheitsaura vorspiegeln, ohne wirkliche Sicherheit anzubieten: "Unbestreitbar ist, daß die Charta zwar für die Zukunft eine gewisse Unterstützung für den Nato-Beitritt der Baltischen Staaten signalisiert, dies aber ist kein Rückhalt für heute."

Kritisch bewertet wird die Charta auch in der lettischen Presse. So nennt der Kommentator der Zeitung "Biznes & Baltija", Daniik Trubnikov, die Charta ein Instrument der Massenhypnose. Die Charta bestätige nur, daß die Möglichkeiten der Baltischen Staaten, Mitglieder der Nato zu werden, recht unklar seien.

Eine zurückhaltende Bewertung gibt der lettische Historiker Dr. Aivars Stranga. Er schreibt, daß wir mit der Unterzeichnung der Charta das Maximum dessen erreicht haben, was wir überhaupt erhoffen konnten. "Ob wir imstande sein werden, das Geplante in den Bereichen Wirtschaft und militärische Kooperation zu verwirklichen, hängt von uns selber ab. Was aber hängt von den USA ab? Ich bin besorgt", so Dr. Stranga, "was ,Foreign Policy’ berichtet: Man glaubt, daß Bill Clinton einer der letzten pro-europäisch orientierten Präsidenten der Vereinigten Staaten sein könnte. Die wachsende Bedeutung Chinas wie des Fernen Ostens überhaupt kann zunehmen. Dann stellt sich die Frage, wie lange die USA noch ihr Interesse auf Europa und damit auch auf Lettland richten wird." Das Urteil dieser Skeptiker sollte ernst genommen werden.

Mit der Unterzeichnung der Charta sind die vier Partner große Verpflichtungen eingegangen. Mag auch nach amerikanischen Maßstäben die in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit liegende materielle Unterstützung der Baltischen Staaten nicht besonders ins Gewicht fallen, so haben die Vereinigten Staaten doch sicherheitspolitisch eine geradezu gewaltige Aufgabe übernommen – Estland, Lettland und Litauen so in die Nato zu führen, daß dadurch dem Frieden in der ganzen Welt gedient wird und zugleich die Beziehungen zu Rußland nicht aus dem Gleichgewicht geraten.

Die Baltischen Staaten wiederum haben sich enorme wirtschaftliche Lasten aufgebürdet. Unsere Völker und ihre Regierungen müssen begreifen, daß der Verteidigung im Staatshaushalt ein hoher Stellenwert zukommen muß. Ich wage zu behaupten, daß wir jetzt für die Landesverteidigung einen weit höheren Preis zahlen müssen als es der Fall wäre, wenn wir in den zurückliegenden Jahren großzügiger geplant hätten.

Erinnerrn wir uns: Unsere Tradition der Landesverteidigung war durch die Okkupation für fast ein halbes Jahrhundert unterbrochen worden. Es galt, wieder ganz von vorne anzufangen. Slowenien z. B. hat in einer ähnlichen Situation in den ersten Jahren der Selbständigkeit rund 20 Prozent seines Staatshaushaltes für die Verteidigung verwandt und konnte daher eine gut funktionierende Infrastruktur aufbauen. Jetzt kommt Sloweniens Landesverteidigung mit einem geringeren Anteil am Staatshaushalt aus, weil sie inzwischen in der Lage ist, regionale Sicherheit zu produzieren.

In Estland haben jene politischen Kräfte, die seit den Parlamentswahlen 1995 die Regierung stellen, der Landesverteidigung keine so große Aufmerksamkeit geschenkt. Man kann nur hoffen, daß die Charta unsere Regierung zum Nachdenken zwingt, damit Estland die eingegangenen Verpflichtungen erfüllen kann. Die Unterzeichnung der Charta ist ein großer sicherheitspolitischer Sieg für die Baltischen Staaten. Dieser Sieg muß jetzt genutzt werden, damit er sich nicht in eine Niederlage verwandelt.

 
     
     
 
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