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Neue Dimensionen öffnen

 
     
 
Als der Baßbariton Thomas Quasthoff im Frühjahr dieses Jahres nach 1999 zum zweiten Mal mit dem renommierten Grammy als bester deutscher Solist ausgezeichnet wurde, achteten (fast) alle nur auf die hervorragende Stimme des Sängers. Weltweit gilt der kleinwüchsige und contergangeschädigte Quasthoff als bedeutender Interpret von Mahler- und Schubert-Liedern. Als Peter Radtke gut 20 Jahre zuvor in München unter der Regie von George Tabori auf der Bühne zu sehen war, empörten sich viele Zuschauer; sie wollten nicht stundenlang
mit einem Rollstuhlfahrer konfrontiert werden! Radtke leidet seit seiner Geburt an der Glasknochenkrankheit. Das hinderte ihn jedoch nicht, ein Studium aufzunehmen, zum Dr. phil. zu promovieren, Bücher zu schreiben und auf der Bühne und im Film, etwa 1997 in der Rolle des Oskar Matzerath in Günther Grass "Die Rättin", zu agieren.

Behinderte in Filmen, auf der Bühne und im Fernsehen sind heute gar nicht mehr so selten. Selbst in den täglichen Seifenopern des Vorabendprogramms findet man sie in ernstzunehmenden Rollen, so etwa den ebenfalls an der Glasknochenkrankheit leidenden Erwin Aljukic, der in der ARD-Sendung "Marienhof" den Frederick spielt. Daß sich das Bewußtsein zumindest ein wenig gewandelt hat, liegt nicht zuletzt auch an Männern wie Peter Radtke. Er ist Geschäftsführer der 1983 auf Anregung der Bayerischen Staatsregierung gegründeten "Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien e.V." (abm) mit Sitz in München. Der unter der Schirmherrschaft von Barbara Stamm, Staatsministerin a. D., stehende Verein will Behindertenverbänden die Möglichkeit geben, ihre Anliegen über die Medien einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen.

Mittlerweile zählt die abm 16 Mitgliedsverbände und strahlt wöchentlich mehrere Programmformate in verschiedenen lokalen, aber auch bundesweiten Sendern aus, so auf 3sat einmal im Monat ein Porträt einer interessanten Persönlichkeit mit Behinderung oder auf Kabel 1 monatlich die Sendung "Challenge" (Herausforderung).

Neben der Fernsehproduktion gibt es seit einiger Zeit auch eine Videothek für Hörgeschädigte, das Internationale Kurzfilmfestival "Wie wir leben" und das Projekt "Objektiv - Medien, Behinderung und Schule", an denen die abm maßgeblich beteiligt ist. "Wir glauben - und sind darüber auch ein wenig stolz", so Peter Radtke, "daß die in unserem Land zunehmende Präsenz behinderter Menschen in den Medien neben anderen Faktoren nicht zuletzt auch auf die ... kontinuierliche Arbeit unserer Vereinigung zurück-geht."

Auf Initiative von Peter Radtke wurde auch ein seit September 2003 von der Akademie für darstellende Künste (adk) in Ulm angebotener integrativer Studiengang für Menschen mit Körperbehinderung ins Leben gerufen. Dieses europaweite Pilotprojekt wird von der EU und der Landesstiftung Baden-Württemberg gefördert und bietet Körperbehinderten eine Ausbildung in den Klassen Schauspiel, Theaterpädagogik, Dramaturgie und Regie an. Namhafte Dozenten wie der Regisseur Michael Verhoeven haben sich zur Mitwirkung bereit erklärt; dem Kuratorium gehören neben Verhoeven unter anderem auch der Schauspieler Bruno Ganz, der Regisseur George Tabori, die Politiker Lothar Späth und Claudia Roth sowie die Journalistinnen Sabine Christiansen und Amelie Fried an.

Obwohl andere staatliche Hochschulen Körperbehinderten keine Möglichkeit zur Bühnenausbildung anbieten, sind die Bewerberzahlen (noch) in Ulm sehr niedrig. Im vergangenen Jahr waren es zwölf Bewerbungen, heuer nur drei. Das mag einmal daran liegen, daß ein solcher Ausbildungsgang weitgehend unbekannt ist, zum anderen aber auch daran, daß die Studenten die Ausbildung zum großen Teil selbst finanzieren müssen (Studiengebühr 380 Euro monatlich). Ein Job nebenbei ist für Menschen mit Körperbehinderung schließlich nicht so leicht zu finden. Bis zum 30. Lebensjahr besteht allerdings die Möglichkeit für das staatlich anerkannte Studium Schüler-BaföG zu beantragen. Auch sind Sponsoren angesprochen, Stipendien zur Verfügung zu stellen.

Das Studium dauert drei Jahre und wird mit einer Prüfung der ZBF (Zentrale Bühnen-, Fernseh- und Filmvermittlung) abgeschlossen. Ob die frischgebackenen Theaterleute dann allerdings ein Engagement finden? Frank Baumbauer,

Intendant der Münchner Kammerspiele und Mitglied des Kuratoriums: "Kriterium ist wie bei Nicht-behinderten die Begabung, das Können und die Qualifikation. Schwieriger ist es zweifelsohne herauszufinden, welche Theater in aufrichtiger Weise Menschen mit Behinderung diese Chancen einräumen."

Bevor sie sich ihren Traum erfüllen können, müssen die Bewerber allerdings eine Aufnahmeprüfung absolvieren. Die letzte für dieses Semester findet an diesem Wochen-ende statt. Maximal drei Studenten mit Körperbehinderung können aufgenommen werden; solche mit einem Elektro-Rollstuhl allerdings nicht, weil die räumlichen Möglichkeiten leider (noch nicht) vorhanden sind. Auch sehr sprachbehinderte Menschen haben kaum eine Chance. Akademieleiter Ralf Rainer Reimann war nach den ersten Prüfungen begeistert: "Das Besondere zeigte sich dann, wenn die spezielle Körperbehinderung im kreativen Ausdruck zur EigenArt - Eigenkunst wurde, und die Behinderung geradezu verschwand. Die größte Kunst erscheint wohl da, wo das anscheinend Profane in eine Schönheit verwandelt wird, die tief in uns schwingt. Außerhalb jeder Norm, bezogen auf eine Schöpfung und innerhalb eines Menschenbildes, das alle Daseinsformen als zum Leben gehörend erkennen kann und so mit ihnen umgeht." Und: "Mit dieser Ausbildung wachsen einerseits Studenten heran, für die der Umgang mit Menschen mit Körperbehinderung selbstverständlich ist. Andererseits erfahren die Studenten mit Behinderung, daß dies kein Hindernis für eine gemeinsame Ausbildung bedeutet. Für uns alle ist dieser Studiengang ein tägliches Training an uns selbst, um Vorteile zu ergründen und abzubauen."

Das Programm ist umfassend. Denn: "Wer als Mensch mit Körperbehinderung ausschließlich auf Schauspiel setzt", so mahnt Peter Radtke, "wird es schwer haben, damit später seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Mit einer breiten Qualifizierung, die Schauspiel mit Regie, Dramaturgie und Theaterpädagogik kombiniert, ermöglicht die adk den Studierenden eine gute Grundlage." Gemeinsam mit den nichtbehinderten Studenten entwickelt man bis zu 22 Projekte. Die Behinderten werden hierbei nicht besonders behandelt, genießen keine Privilegien, werden auch nicht benachteiligt. Ganz im Gegenteil: Barbara Schmidt, Theaterpädagogin und Physiotherapeutin, sieht sogar Vorteile - "Studierende mit Körperbehinderung sind durch ihre Therapiearbeit äußerst geschult in der Körperwahrnehmung. Zu dieser Sensibilisierung kommt nun der Bezug zu anderen Menschen hinzu. Da sich therapeutische und schauspielerische Methoden stark überschneiden, können sie ihre bisherigen Erfahrungen gut einbringen." Man muß allerdings lernen, seine Grenzen zu akzeptieren, Ehrgeiz ab- und Entspannung aufzubauen.

Peter Radtke sieht hoffnungsvoll in die Zukunft: "Der Enthusiasmus der meisten Bewerber konnte geradezu anstecken und läßt für die Zukunft Entwicklungen erhoffen, welche die heute zum Teil noch skeptische Fachwelt in Erstaunen versetzen werden. Nicht trotz der Behinderung, sondern wegen derselben wird man Leistungen sehen, die neue Dimensionen öffnen."

Peter van Lohuizen

Weitere Informationen: Akademie für darstellende Kunst (adk), Staatlich anerkanntes Berufskolleg für Theaterberufe (Schauspiel, Regie, Dramaturgie, Gesang, Figurentheater, Szenisches Schreiben), Fort Unterer Kuhberg 12, 89077 Ulm, Telefon (07 31) 38 75 31, Fax (07 31) 38 85 185, E-Mail adk-ulm@t-online.de , Website www.adk-ulm.de  .

Gemeinsam auf der Bühne: Behinderte und Nichtbehinderte bei der Ausbildung zum Schauspieler Foto: adk Ulm

 
     
     
 
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