A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
     
 
     
 

Opa Kruschke und das Heimweh

 
     
 
Der Sturm peitschte nun schon seit Tagen dicke Regenwolken über die alte Hansestadt und ließ so gar keine Vorweihnachtsstimmung aufkom- men. Besonders die Kinder maulten zu Hause rum und drückten ihre Nasen an die Fensterscheiben, ob sich da nun nicht bald ein paar Schneeflocken einmischten, denn Weihnachtsferien ohne Schlittenfahren und Schlittschuhlaufen - das war schon recht traurig. So saßen sie nun richtig maulsch in der Stube rum und brachten Mutter mit ihrer Fragerei, was sie denn noch tun könnten, auf die Palme.

Die Bücher aus dem Regal kannten sie schon auswendig - beim "Mensch-ärger-dich-nicht" fehlten ein paar Steine, und den Malkasten hatte Mutter weggeschlossen, weil sie damit nur Unduchten getrieben hatten. So blieb ihnen nichts weiter übrig, als den Fernseher anzuschmeißen und sich in die Sofa
ecke zu lümmeln.

Aber das war auch nicht doll, und so wußten sie sonst nichts anderes anzufangen, als rumzualbern und sich zu kloppen. Bis Mutter ein Machtwort sprach: "So - nun zieht ihr mal fix die Gummistiefel und eure Regenjacken an, und dann schert euch raus ...!"

"Waaas - bei dem Wetter ...? da kannst du uns doch nicht rausschicken - da jagt man doch keinen Hund vors Haus ...!" jammerten sie und versprachen ganz lieb zu sein. Aber Mutter blieb hart. "Raus mit euch ...! Ihr seid doch nicht aus Zucker ...!"

So standen sie nun vor der Haustür und trampelten von einem Fuß auf den andern. Da konnte man sich ja rein verschuchern. Der Sturm zoddelte an ihnen rum und riß ihnen die Kapuzen vom Kopf, daß der Regen ihnen ins Gesicht peitschte und dann ins Halsloch rann.

Mann, Mann ... wie konnte Mutter nur so hartherzig sein. Aber dann kam Antje eine Idee. "Wißt ihr was ...?" bibberte sie, "... wir könnten doch mal wieder zu Opa Kruschke reingucken. Der hat sicher eine warme Stube, und der freut sich doch immer, wenn er Besuch kriegt."

Opa Kruschke wohnte ganz in der Nähe in seinem kleinen Ganghaus, das er kurz nach dem Krieg von seinem Lastenausgleich gekauft hatte. Und wo nun seine Frau nicht mehr lebte und die Kinder ausgeflogen waren, lebte er seit langem ganz allein. Da freute er sich immer, wenn die Kinder bei ihm anklopften. Im Sommer hatten sie oft mit ihm am Fluß gesessen und ihm beim Angeln zugesehen. Und dabei hatte er ihnen von seiner Heimat in Ostdeutschland erzählt, und wie schön es damals in Masuren war.

Direkt am Waldrand hatte er mit seiner Familie gelebt, in einer richtig gemütlichen Kate mit Strohdach. Da hatte im Winter der Schnee so dick und hoch gelegen, daß die Rehe bis an ihr Haus gekommen waren, und wenn man ihnen nichts zu fressen gegeben hatte, dann fingen sie an, am Strohdach rumzuknabbern.

Und im Sommer war er mit seinem Vater auf den See rausgerudert, um die Netze einzuholen ... S-o-o-lche Zander und Barsche hatten sie rausgeholt, und dabei hatte er die Arme so weit auseinandergerissen, daß man s kaum glauben konnte. Aber Masuren war wohl ein Wunderland und - lag so weit weg, daß man da kaum noch hinkommen konnte.

Rein neidisch konnten die Kinder werden, wenn er von den blanken Seen erzählte, und von der Sonne, die da viel goldener geschienen hatte und der Duft von Tannen und Wiesenblumen einem rein zu Kopf steigen konnte. Und von dem alten knorrigen Kruschkenbaum hatte er erzählt, in dem er oft barfuß rumgeklettert war, um sich die kleinen Kruschken runterzuschütteln. Und davon hatte Opa Kruschke auch seinen Namen, obwohl er eigentlich Karl Kalweit hieß. Aber "Kruschke" war an ihm hängengeblieben, und so hieß er einfach Opa Kruschke, wenn die Kinder bei ihm auf der Ofenbank saßen, und er immer und immer wieder von seiner Heimat erzählte. Von den Fuchsjagden und von den Fahrten mit dem Pferdeschlitten durch das dick verschneite Land, wenn die Schlittenglöckchen bimmelten und sie dick eingemummelt und mit krachroten Nasen und lustigem Peitschenknallen durch dieses Land fuhren, das durch sein Erzählen richtig zum Märchenland wurde. Und dann hatte ihn sein Heimweh so überkommen, daß er eines Tages sechshundert Mark von seinem Sparbuch holte und sich im Reisebüro für eine Fahrt nach Masuren einschreiben ließ.

So richtig schön hatte er sich das ausgedacht, wie er da vor seinem Haus stehen würde. Sicher - da lebten nun andere Leute drin, aber sie würden ihn doch sicher mal reinschauen lassen und ihm erlauben, ein paar Kruschkes von seinem alten Baum zu schütteln. Bloß mal wieder zu Hause sein in der kleinen Stube unter der Balkendecke, wo es so gut nach Holz riechen würde, wie er s in Erinnerung hatte. Und dann wollte er den sandigen Weg zum See hinuntergehen, wollte den alten Kahn vom Steg abtüdern und auf den See hinausrudern. Da wollte er dann mit seinen Händen durchs Wasser streichen, so, wie er es damals als Junge getan hatte, wollte fühlen, ob es immer noch so weich und so klar war, daß man bis auf den Grund sehen konnte.

Und an all dem wollte er sich einen ganzen Tag lang erfreuen und es dann ganz tief in seinem Herzen mitnehmen in sein kleines Ganghaus. Aber als er dann nach zwei Wochen zurückgekommen war, da mußten die Kinder ihn betteln: "Nun erzähl doch mal, Opa Kruschke - wie war s denn ...?" Da hatte er nur traurig den Kopf geschüttelt. So nach und nach hatte er sich dann überwunden und alles erzählt. Da gab es kein Haus mehr am Waldrand. Kein Haus mit Strohdach und keinen Kruschkenbaum im Garten und keine Wiese mit Sommerblumen. Da waren eine Teerstraße und Ziegelhäuser, eins wie das andere. Und ein Fischereihafen mit einer Fischfabrik, wo es aus dem Schornstein blökerte und stank.

Der Wald um den See rum war abgeholzt, und am Ufer stand eine Menge Container und Lastwagen. Der Reiseleiter hatte großspurig was von "Fortschritt" gesprochen, und wie das früher alles so rückständig gewesen war. Mit Ruderkähnen hatten die Leute sich abplagen müssen, wo man heute mit Motorkähnen arbeitete.

Da hatte Opa Kruschke rein das Heulen gekriegt. Aber der See ist noch da. Und einen Kaffee hatte er auch bekommen in so einer "Cafeteria" auf einem Plastikstuhl an einem Plastiktisch aus einer Plastiktasse.

"Tja - Kinder", hatte er dann gesagt. "... so ist das nun. Wäre ich bloß nicht hingefahren - hätte alles so in Erinnerung behalten."

"Ach Opa Kruschke", hatten die Kinder ihn zu trösten versucht. "Nun bist du wohl gern zurückgekommen?"

Aber Opa Kruschke hatte ganz sachte den Kopf geschüttelt. Das Heimweh würde ihm wohl bleiben. Das Heimweh - und seine Erinnerungen. Sein Leben lan
 
     
     
 
Diese Seite als Bookmark speichern:
 
     
     
     

     
 

Weitere empfehlenswerte Seiten:

Der geschenkte Tag

Verbotene Wahrheit

Reflexionen zur Aktualität des 17. Juni 1953

 
 
Erhalten:
 

 

   
 
 
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11
WISSEN48 | ÜBERBLICK | THEMEN | DAS PROJEKT | SUCHE | RECHTLICHE HINWEISE | IMPRESSUM
Copyright © 2010 All rights reserved. Wissensarchiv