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Schikanen

 
     
 
Die Tür fiel ins Schloß. Jetzt war es Mitternacht. Ich war in der Königsberger Wohnung und hatte den Wunsch, mir die Hände zu waschen und den Wunsch nach Ruhe, um meine Situation zu bedenken. Wasser gab es nicht, weder warmes noch kaltes. Typisch, das paßt ins Bild und ist um diese Zeit immer so. Also saß ich schmutzig und übelriechend auf der Koje und ließ die vergangenen Stunden und die letzten Monate und Jahre Revue
passieren. Was war passiert?

In der Mittagszeit, fast genau um 12 Uhr, rollte ich mit dem Lastzug der Nordelbischen Kirche in die Grenzanlage Heiligenbeil. Es war der Beginn der Rückfahrt vom ersten humanitären Hilfstransport in diesem Jahr. Also: Vorkontrolle – o.k., Hauptkontrolle – o.k., Zollinspektion – o.k. Gerade wollte ich zur abschließenden Gesichtskontrolle, der Paßkontrolle, gehen, als ich hinter dem Lastzug einen mir völlig unbekannten Zöllner stehen sah. Er verlangte von mir, Ladefläche und Fahrerkabine zu besichtigen. Als er dann später nach meinen mitgeführten Geldmitteln fragte, tappte ich durch ungenaue Angaben in eine böse Falle. Die Folge war eine erneute, sehr intensive Kontrolle des Lkw. Das Ergebnis: Ausreiseverbot und Eröffnung des Verfahrens wegen Verdachts des Geldschmuggels.

Seit 1993 werden diese Transporte nach Nord- Ostdeutschland im Auftrag der Nordelbischen Kirche und der mit ihr zusammenarbeitenden Organisationen durchgeführt. Gut 50 Transporte lagen hinter mir. Die Grenzabfertigung bei der Ausfahrt war immer problemlos, zumal die abzulaufenden Stationen und die Vorgehensweise mir gut bekannt waren. Die eigentlichen Probleme hat man bei der Einreise mit all den notwendigen Dokumenten. In den letzten Jahren schlug der russische Bürokratismus zu, und der russische Zoll entwickelte sich zu einem Staat im Staate.

Meine Hauptfrage in diesen Nachtstunden lautete, soll man die Transporte einstellen, um sich dieser Belastung nicht aussetzen zu müssen? Hat sich die Lage im Gebiet nicht so weit stabilisiert, daß es ohne die Hilfe aus Deutschland geht? Das Stadtbild in Königsberg hat sich seit 1993 sehr verändert. Die Geschäfte sind voll. Man kann fast alles kaufen. Der Verkehr auf den Straßen hat zugenommen. Häuserfassaden werden renoviert. Supermärkte und Baumärkte nach westlichem Zuschnitt sind entstanden. Alles positive Zeichen.

Auf der anderen Seite kenne ich die Probleme aus eigenen Beobachtungen, Schilderungen der Verantwortlichen in der Stadt- und Gebietsverwaltung und Gesprächen mit den Verantwortlichen der Evangelischen und Katholischen Kirche in Königsberg. Zunächst gibt es ein großes Stadt – Landgefälle. Die Probleme im sozialen Bereich nehmen zu. Besonders betroffen ist die ältere Generation, die von den Renten kaum existieren kann. Wenn der Familienverbund nicht trägt, werden sie schnell zum Sozialfall. Alkoholiker, Arbeitslose und Straßenkinder sind weitere Problemkreise, mit denen die dortige Administration nicht fertig wird. Hier helfen die Güter der Hilfstransporte, größte Not zu lindern. Zunehmend erkennt die Administration den Stellenwert der umfassenden humanitären Hilfe aus dem Ausland und weiß, daß die Probleme unkontrollierbar werden, wenn diese Hilfe ausbleiben würde. Dennoch hat sie keine Möglichkeiten, die Hilfslieferungen aus dem Ausland zu erleichtern. Die Macht des Zolls und der Einfluß der alten kommunistischen Seilschaften in den verantwortlichen Stellen ist einfach zu groß.

Weitere große Probleme erscheinen am Horizont. Die Energie- und Wasserversorgung sowie die Abwasserbeseitigung drohen zu kollabieren. Die Hafenanlagen scheinen unrettbar verkommen zu sein und sind bedeutungslos im Vergleich zu den Anlagen im benachbarten Polen und Litauen geworden. Für die Landwirtschaft fehlt eine Handelsorganisation, wie zum Beispiel die Raiffeisengenossenschaften. Das, was noch vorhanden ist, ist unzuverlässig und nicht in der Lage, den Landwirten die gelieferte Ware zu bezahlen. Wie soll ein Bauer überleben, wenn er noch immer auf das Geld für seine Ernte vom Vorjahr wartet?

Bei Diskussionen über Verbesserungsmöglichkeiten für die Menschen in diesem Gebiet formulieren sogar Insider, daß eine Veränderung nur möglich sein wird, wenn die alten Verwaltungsstrukturen in Moskau und im Königsberger Gebiet beseitigt werden. Für Moskau ist dieses Gebiet ein Zuschußgebiet. Vor dem Hintergrund der großen wirtschaftlichen und finanziellen Probleme der russischen Föderation ist es nur eine Frage der Zeit, bis das Interesse an diesem Gebiet schwindet.

Was also ist zu tun? Wie soll man sich entscheiden, weitermachen und durchhalten oder aufhören? Die Probleme und Hindernisse mit dem russischen Zoll sollten nicht der entscheidende Punkt sein. Das sind kleine Stolpersteine, die einen nicht zu Fall bringen und die man bei ausreichender Aufmerksamkeit umgehen kann. Der wesentliche Punkt sind die Menschen, die in diesem Gebiet leben und die in das Aus abgleiten, wenn sie nicht aufgefangen werden.

Ich habe in dieser Nacht noch lange auf meiner Koje gesessen und innere Einkehr gehalten. Die Nachtruhe war unruhig, wie auch die der nächsten Tage. Es hat alles ein gutes Ende genommen. Dank der vielfältigen Unterstützung habe ich das konfiszierte Geld bis auf zehn Prozent wiederbekommen, das Ausreiseverbot wurde nach vier Tagen aufgehoben, und ich habe das Gefühl, daß dem russischen Zoll die ganze Angelegenheit mehr als peinlich war und ist.

 

 
     
     
 
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