A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z
     
 
     
 

VERGLEICH VON MENSCHLICHEN UND TIERISCHEN VERHALTENSWEISEN

 
     
 
Verwandtschaftsverhältnisse, die phylogenetisch gedeutet werden können, lassen sich nicht nur nach somatischen Merkmalen, sondern auch nach Verhaltensweisen feststellen, die in der zoologischen Systematik zunehmend an Bedeutung gewinnen (12omo 1 o g e s Verhalten). So lassen sich auch eine Reihe menschlicher Verhaltensweisen auf ein allgemeineres Primaten-, Säugetier- oder gar Wirbeltierverhalten zurückführen. Die spezifisch menschlichen Abwandlungen dieser allgemeinen Verhaltensmuster sind kulturanthropologisch besonders wichtig.

SEXUALVERHALTEN. Die wichtigsten Varianten der menschlichen Triebbefriedigung finden sich auch bei den Tierprimaten: neben dem heterosexuellen Verkehr H o nz o s e x u a l i t ii t, Selbstbefriedigung, Reizspiele zur Einleitung des Coitus, sexuelle Spiele in der Kindheit; die Initiative kann sowohl vom Männchen wie vom Weibchen ausgehen. In der systematischen Reihe von den niederen Primaten zum Menschen zeigt sich ferner eine Reihe fortschreitender Abwandlungen: Der Anteil der Keimdrüsenhormone an der Steuerung des Sexualverhaltens nimmt ab, der Anteil der Großhirnsteuerung zu; die Verhaltensweisen werden damit innerhalb der Art zunehmend variabler und plastischer; die Lernkomponente nimmt zu. Die sexuellen Spiele in der Vorreifezeit dienen zunehmend der Einübung der sexuellen Verhaltensweisen. Die jahreszeitlichen B r u n s t z y k 1 e n verwischen sich; sexuelles Interesse und sexuelle Betätigung gehen bei den höheren Primaten, auch bei den freilebenden, durch alle Jahreszeiten hindurch, Junge werden daher in allen Monaten geboren (Zuckermann u. a.); die Wahllosigkeit bei der Paarung nimmt ab, eine Bevorzugung bestimmter Partner tritt an ihre Stelle (sehr deutlich z. B. beim Schimpansen). Bei allen in Gefangenschaft lebenden und domestizierten Tieren nimmt die sexuelle Aktivität zu; es ist daher möglich, daß die starke Sexualisierung des Menschen mit seiner Selbstdomestikation zusammenhängt.

Hauptzüge der menschlich-kulturellen Überformung des Sexualverhaltens sind: 1. Die Ausbildung einer Intimsphäre, die allerdings in stark wechselndem Grade abgegrenzt wird. Sexualspiele und Paarung vollziehen sich bei den Tierprimaten in voller Öffentlichkeit , in allen Kulturen ist dagegen eine Absonderung des Paares die Norm. Es kann dies als Konsequenz der zunehmenden personalen Bindungen aufgefaßt werden. 2. Die Neutralisierung bzw. Hemmung des Sexualtriebes gegen bestimmte Personen (Inzest, vgl. unten), in bestimmten Lebens bereichen (Priester z ö 1 i b a t u. a.) oder in bestimmten Zeiten (Keuschheit vor der Ehe u. a.). 3. Die Ableitung der sexuellen A n t r i e b s ii b e r s c h ii s s e in andere Handlungsbereiche (Kunst).

Im einzelnen ist die Institutionalisierung des Sexualverhaltens in den verschiedenen Kulturen außerordentlich mannigfaltig (F o r d, B e a c h). Unter anderem werden die einzelnen Formen der Triebbefriedigung unterschiedlich bewertet: die Homosexualität von strengem Verbot mit Strafandrohung über Duldung und Indifferenz bis zur positiven Bewertung, ja Forderung; völlige Freiheit in den vorpuberalen Sexualspielen bis zu streng kontrolliertem Verbot. In der einen Kultur ist die Initiative eine ausschließlich oder bevorzugt männliche Rolle, in anderen ist sie auch der Frau erlaubt oder liegt sie gar vorzugsweise bei der Frau (dies ist, ebenso wie bci den Tierprimaten, der seltenere Fall). Die Abgrenzung der Intimsphäre zeigt alle Grade bis zur völligen Tabuierung alles Geschlechtlichen, die Neutralisierung aller Grade und Richtungen bis zur völligen Askese, »eine der Triebbefriedigung entgegengerichtete Antriebsstruktur, deren Bestand wir als Grundlage aller höheren sozialen und kulturellen Organisation ansehen müssen« (S c h e 1 s lc y). In allen menschlichen Gesellschaften deckt die Sexualnorm jedoch nicht alle tatsächlichen Varianten, wobei der Anteil der abnormen , unmoralischen Verhaltensweisen wiederum stark variiert bis zur Aushöhlung der Norm (K i n s e y - Berichte). Starke historische Schwankungen der Sexualnormen sind daher für den Menschen ebenso charakteristisch wie die große ethnische Variabilität (T a y 1 o r).

FAMILIE. Die Grundlage der Familie ist die Mutter-Kind Beziehung. Sie wird in der Säugetierreihe um so dauerhafter, fester und inhaltlich reicher, je länger die Jugendzeit dauert, je länger damit das Junge von der Fürsorge der Mutter abhängt. Sie reicht aber bei keinem Tier über die volle Geschlechtsreife der Jungen, wohl aber vielfach, und auch bei den Primaten, über die Zeit der unmittelbaren Nahrungsabhängigkeit hinaus. Der Kern der Familie umfaßt in diesem Fall außer der Mutter mehrere Junge verschiedenen Alters, was die sozialen Beziehungen, und zwar sowohl der Mutter zu den Jungen wie der Geschwister untereinander, stärker differenziert. Beim Menschen ist der psychologische Entwöhnungsprozeß (C o u n t) stark retardiert und kommt vielfach nie zum Abschluß. Daraus erge- ben sich doppelte Familienbeziehungen: zur H e r k u n f t s-und zur Zeugungsfamilie. Nur beim Menschen ist damit ein erlebter Dreigenerationenzusaminenhang gegeben, offenbar eine wichtige Voraussetzung für die Tradition von Erfahrungen und Kenntnissen.

Das Männchen hat bei den Tierprimaten individuelle Beziehungen nur zum Weibchen, nicht dagegen zu seinen Nachkommen: es ist Erzeuger, aber nicht Vater. Die F a m i l i a r i s i e r u n g des Männchens stellt den entscheidenden Schritt zur menschlichen Familie dar (Count). Während bei den Tierprimaten familiare und außerfamiliare Interessen unter den letzteren vor allem die Nahrungsbeschaffung so gut wie unverbunden nebeneinander stehen, tritt nunmehr eine Verknüpfung beider Interessenkreise ein. Eine wichtige Rolle kann dabei der Übergang von einer überwiegend vegetarischen Lebensweise auf stärker gemischte Kost und insbesondere die Jagd von Großwild gespielt haben (W a s h b u r a). Bei den Tierprimaten gibt kein erwachsenes Individuum dem anderen etwas von der von ihm gesammelten Nahrung ab (mit Ausnahme der sog. Prostitution bei Zooaffen: das Weibchen bietet sich dem Männchen gegen einen Anteil an begehrten Leckerbissen an); Jagd, wie sie schon bei den Australopithecinen wahrscheinlich ist, muß eine Geschlechtsdifferenzierung der Nahrungssuche (Sozialanthropologie, Arbeitsteilung der Geschlechter) zur Folge gehabt haben: das Männchen lieferte nunmehr vorzugsweise die Fleischnahrung, auch für Weibchen und Junge. Zu der Schutzfunktion des Männchens, die ein allgemeines Säugetierverhalten darstellt, trat damit eine neue Funktion, die zur Integration der Familie beitrug. Gewisse Ansätze dazu liegen jedoch bereits in der Variationsbreite der sozialen Kapazität der Großaffen: Schimpansenmännchen schützen bevorzugt die Jungen der eigenen Gruppe; bei einer gefangenen Schimpansengruppe, die nur aus Männchen, Weibchen und einem Jungen bestand, wurde auch väterliches Verhalten des Männchens, d. h. eine positive individuelle Zuwendung zu dem einen Jungen beobachtet.

Die menschliche Familie ist ferner durch die Tendenz zur M o -nopolisierung der Geschlechtsbeziehungen gekennzeichnet. In die langanhaltenden Beziehungen zwischen Mutter und Nachkommen wird »aus Gründen der Lebenssicherheit und des Lebensunterhalts der Vater einbezogen . Dieses Dauerverhältnis der biologisch erforderlichen Fürsorge ermöglicht beim Menschen neue Formen der Affektbindungen und gegenseitigen Aktivität, der Sympathieverhältnisse und moralischen Verpflichtungen ... Die aus der langandauernden Fürsorgegemeinschaft der Ehegatten erwachsenden Dauerhaltungen übertragen sich auch auf ihr Verhältnis als Geschlechtspartner« (S c h e l s k y). Bei Naturvölkern sind Ehe und Familie in erster Linie ökonomische Einrichtungen; die sehr mannigfaltigen Eheformea hängen weitgehend von der Wirtschaftsstruktur •ab (Thurnwald, Westermarck); die Tendenzen zur Monopolisierung der Geschlechtsbeziehungen setzen sich bei ihnen in wechselndem Grade in der sozialen und religiösen Institutionalisierung der Ehe durch. Daneben besteht jedoch faktisch in allen menschlichen Gesellschaften die P o l y g a m i e der Primatenhorden fort sozial sanktioniert oder sozial verpönt, bei den strengsteri Formen der Monogamie in der Form der sozial verachteten Prostitution.

Ein weiteres Kennzeichen aller menschlichen Familiensysteme ist das Inzestverbot (B 1 u t s c h a n d e ); die menschliche Familie kann geradezu definiert werden als »eine Gruppe, in der von den Hauptpersonen Geschlechtsverkehr erwartet wird, der dagegen zwischen allen anderen Gliedern der Gruppe verboten ist« (Count). Trotz der allgemeinen Verbreitung dieses Tabus ist es unwahrscheinlich, daß es auf einem Instinkt beruht, da ein solcher bei den Tierprimaten fehlt: bei diesen finden ungehemmt Paarungen zwischen Vätern und Töchtern, Müttern und Söhnen, Brüdern und Schwestern statt. Das Inzestverbot erstreckt sich auch in vielen Fällen nicht nur auf die biologische Abstammungsgemeinschaft, sondern schließt Nichtblutsverwandte ein: die Einsicht in den Abstammungszusammenhang zwischen Vatern und Nachkommen, d. h. den zwischen Geschlechtsverkehr und Geburt, ist eine späte Errungenschaft, die noch bei einer Reihe lebender Naturvölker fehlt. Das Inzestverbot hat zwei soziale Funktionen, die auch seine Entstehung und Verbreitung erklären können: Es stabilisiert die Familie als Lebenskampfgemeinschaft, indem es sexuelle Rivalitäten ausschließt, die mindestens bei gefangenen Tierprimaten einen erheblichen Teil der sozialen Auseinandersetzungen ausmachen; und das E x o g a m i e gebot (Gebot aus der Gruppe heraus zu heiraten) verknüpft die verschiedenen Familienverbände und trägt damit zur Integration größerer sozialer Gemeinschaften bei.
 
     
     
 
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