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Verhalten Heranwachsender

 
     
 
Beschränkt und unerfahren, hält die Jugend sich für ein einzig auserwähltes Wesen, und alles über alle sich erlaubt", heißt es in Goethes Tasso. Optimismus ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Traditionell war er bislang an Jugend gekoppelt. Doch wie eine Studie des Zentrums für Europäische Bildungsforschung der Freien Universität Berlin herausfand, war 1997 hier allerdings keinerlei Zusammenhang mehr zu verspüren. Der Fokus wurde dazu auf die "Lebensstil
e Berliner Jugendlicher" gerichtet, jener Klientel, die unter dem Damoklesschwert der Zukunftsangst einzig noch Rettung in einer intakten Familie finden könnte, so die Quintessenz der abschließenden Auswertung.

Ein Datenpaket liegt damit vor, das helfen soll, etwa hinter das Geheimnis weiter ansteigenden Drogenkonsums oder zunehmender Gewaltbereitschaft unter den Berliner Zöglingen zu kommen. Mit einiger Berechtigung erhält die Hauptstadt dazu einen Sonderstatus. Zum einen ballten sich in Berlin vielerlei soziale Interessengegensätze, die mit der Konzentration von neuen und alten Eliten, aber auch einer starken Arbeiterschaft und dem hohen Ausländeranteil ein besonderes Spannungsfeld bildeten. Obendrein seien die über knapp 30 Jahre hinweg durch eine innerstädtische Mauer getrennt gewesenen Großstadthälften gerade erst auf dem Weg, wieder zu einem Stadtorganismus zusammenzuwachsen.

Der Fingerzeig lenkt den Blick auf die Symptome wie Drogenmißbrauch, Gewaltbereitschaft oder Konsumverhalten. Dennoch wird verhehlt, welcher Herd es befördert hat, daß die heutige Jugend so viel haltloser daherkommt, als die der vorherigen Generationen: Gemeint sind zum einen die Kulturpolitik der sogenannten Linken und zum anderen die protestantische Kirche, die es versäumte, neben ihrem verdienstvollen Bemühen um Notleidende in aller Welt die nötigen geistigen Impulse im Inland zu stiften. Ganz unentdeckt bleiben diese Räder aus dem Getriebe der Umerziehung, die dahingehend funktionierten, stärkende Elemente zu zerschlagen, um der Nation jenes Korsett zu zerreißen, das gerade jungen Menschen in unsicheren Zeiten Rüstzeug für entschlossenes Handeln geben könnte.

Im Aussparen dieser historischen Einbettung verbleibt der Ansatz der Arbeit im Schlick soziologisch unterfütterter Spekulation: Zwischen Lebensstilen und Persönlichkeit den einzig entscheindenden Zusammenhang witternd, der Aufschluß über ein sich daraus ergebendes Verhalten geben sollte, machte man sich daran, rund 6621 Berliner Jugendliche zwischen dem 12. und dem 20. Lebensjahr nach ihren Lebensgewohnheiten- und Umständen zu befragen, wobei die Einteilung in sogenannte Freizeittypen wie "Auffällige", "Unauffällige", "Gesellige" oder "Normale" wichtiger erschien, als nach sozialer Herkunft zu unterscheiden. Dies Verhaften im Gleichmacherischen ist ein Problem der Studie.

Die Unterschiede zwischen Ost-Berlin und West-Berlin stellten sich als nicht so gravierend heraus, wie man angenommen hatte: Die soziale Organisation der Familie hat in beiden Teilen nach ähnlichen Mustern funktioniert. Der Grund: Sowohl in der ehemaligen DDR als auch in der Bundesrepublik gehörte die Arbeit in den öffentlichen Bereich, was das Private an Bedeutsamkeit einbüßen ließ und die emotionalen Gebärden in der Familie so wiederum wichtig machte. Die Abkunft entpuppt sich in der Bilanz dabei als besser denn ihr Ruf, obwohl nur 61,8 Prozent der Siebt- und Achtklässler im Ostteil der Hauptstadt mit beiden Elternteilen, also in heilen Verhältnissen, zusammenleben (Im Westteil sind es 62,1 Prozent). Optimal sind diese, wenn in ihnen ein "liberal-harmonischer" Erziehungsstil gepflegt wird. Und trotzdem, wie die Umfrage zeigte, sind die Heranwachsenden außerhalb der Familie "Akteure" ihrer eigenen Entwicklung, das heißt, sie lassen sich vor allem durch Angebote aus dem öffentlichen Raum prägen. Als da wären Konsumgüter, Drogen oder das mit brutalen Actionfilmen, Horrorszenarien und sinnentleerten Quizsendungen überfrachtete Fernsehen.

Erziehungswissenschaftler haben immer wieder angemahnt, daß diese mediale Reizüberflutung mundtot macht, die Fähigkeit zu Dialog und Realitätsbewältigung auf fatale Weise kappt. Die Folge sind Verhaltensstörungen mit verschiedensten Krankheitszeichen. Sie entstehen, weil die Halbwüchsigen sich entweder für Aggressionsweisen entscheiden, die in ihren Familien, dem nachbarschaftlichen Milieu oder über den Bildschirm zum Beispiel gegeben werden. Oder für diejenigen, die der eigene Körper mit seinen Schwachstellen für Autoaggression birgt, sei es in der Haut (Allergien), in den Bronchien (Asthma), sei es im Kopf (Migräne) oder im Seelischen (Depressionen).

Für Bücher erwärmt sich, wie man ermittelte, fast nur noch die Altersgruppe der Siebt- und Achtkläßler. Daß sich diese Ausnahme finden ließ, beweist allerdings, daß ein Interesse an Literatur bei Jugendlichen durchaus vorhanden ist, inmitten des Medienkrawalles, Lust auf ruhige Stunden mit einem Buch auf den Händen immer noch – oder gerade deshalb? – übermächtig werden kann.

Die Umerziehungsschulen haben vor allem den volksumspannenden Werten den Garaus gemacht, Begriffe wie Nationalbewußtsein und Heimatliebe im Orkus historischer Altlasten versenkt und "multikulturelle" Ambitionen dafür überhöht, das Unterrichtsfach Religion zum Beispiel mit buddhistischer Lehre beladen, so daß sich Schüler gymnasialer Oberstufen in der Bundesrepublik besser mit den "vier edlen Wahrheiten" des asiatischen Religionsstifters auskennen, als über die Gleichnisse des Neuen Testamentes Bescheid wissen.

Das Verwirrspiel trägt Früchte: Laut Studie sind in West-Berlin bereits 39,7 Prozent der Neunt- bis Zwölftkläßler ohne Religionszugehörigkeit. In Ost-Berlin sind es sogar 87, 2 Prozent. Wohingegen sich unter den türkischen Jugendlichen der gleichen Altersgruppe lediglich 0,7 Prozent von den Glaubensrichtungen verabschiedet haben.

Um die dem Menschen ureigenste Sehnsucht nach Handlungsmustern zu stillen, die sich an einem Wertekanon orientieren, der die Ausschweifungen des Gefühlslebens in eine regulierte und damit lebbare Form bringt, drängen die Halbwüchsigen in Jugendgruppen. Dort finden sich Scheinwerte verkörpert, die innerhalb eines von der Gesellschaft abgetrennten Vakuums entstehen und deshalb auch jugendlicher Rebellion ein Ventil verschaffen. Ungesundes und Gefährliches läßt sich an diesen Orten ungehindert kultivieren, wird zur Lust, ohne bedrohlich zu erscheinen. Das hauptsächliche Gefährdungspotential für junge Leute, heißt es auch in der Forschungsarbeit, läge deshalb in den Gruppen mit ihren eigenen Gesetzen.

Deshalb wohl nicht von ungefähr schießen dieser Tage Jugendkultnischen wie Pilze aus dem Boden. Anfang der 80er Jahre ließ sich noch eine überschaubare Grobeinteilung ausmachen: Es gab die aus England überkommene Subkultur der Punkzene, die ihre Lebensphilosophie in zwei Worten unterbrachte: "No future", die durch die Grünen motivierten "Ökos" und die geschniegelten "Popper". Mittlerweile sind es bis zu 200 unterschiedliche Grüppchen, in denen sich bundesrepublikanische Backfische zusammenfinden, fasziniert und angezogen von der Gewalt, der Gefahr und Aggression, der hier oftmals ein Forum geboten wird. Von Satanskultgruppen bis hin zu den "Airbaggings" reicht die unheilvolle Palette. Letztere lassen im Vertrauen auf das Sicherheitskissen gestohlene Luxuskarossen aufeinanderprallen. Ein Spiel mit dem Tod.

Das Verhalten werde in erster Linie von der Gewohnheit bestimmt, die Werte seien dem nachzuordnen. Auf diese Soziologenweisheit berufen sich die Erziehungswissenschaftler bei der Suche nach Erklärungsmustern für den entarteten jugendlichen Leichtsinn allzugern.

Richtig ist, daß man uns daran gewöhnt hat, Werte, die zu unserem Volk gehören, es ausmachen und stabilisieren, totzuschweigen und eine Kirche zu akzeptieren, die für junge Menschen keine geistige Nahrung mehr anzubieten hat. Die Jugend dankt mit lähmender Zukunftsangst. Anwachsende Besorgnis der Heranwachsenden über das eigene und das gesellschaftliche Morgen ist neben der Arbeitslosigkeit ein zweites großes Problem an der Wende in ein neues Jahrtausend. Zur Lösung verweisen die Berliner Jugendforscher erstaunlicherweise jetzt auf die Familie, jene Keimzelle, die die 68er Bewegung der eigenen zersetzenden Politik zum Fraß vorgeworfen hatte. Denn, wie Jean-Paul Sartre über jene sagt, die gerade den Kinderschuhen entschlüpft sich auf dem aufwühlenden Weg zur Erwachsenenreife befinden: " Die Jugend will, daß man ihr befiehlt, damit sie die Möglichkeit hat, nicht zu gehorchen."

 

 
     
     
 
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