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Warum fragen Sie mich das?

 
     
 
Wir sitzen bei Oberst Wladimir Iwanowitsch Nikolajew. Er war dabei, als Gerdauen in der Nacht vom 26. auf den 27. Januar 1945 von den Russen erobert wurde. Später ist er in dieser Stadt hängengeblieben. Vera, meine Dolmetscherin, will wissen, ob Nikolajew an der Eroberung Berlins beteiligt war. "Njet", sagt er ein bißchen verschämt. Dann erzählt er uns, wie es nach dem Krieg weiterging. Er schied 1948 aus der Armee aus und wurde Forstbeamte
r in Kursk, südlich von Moskau. Ein paar Jahre später ergab es sich, daß er wieder nach Ostdeutschland fuhr. Er besuchte seine Schwester, die nach Rauschen an der Ostsee gezogen war. Dort gefiel es ihm so gut, daß er in Kursk seine Versetzung beantragte. 1958 wurde sie ihm gewährt, und er kam an das Forstamt in Rauschen. Zwei Jahre später wurde er nach Gerdauen versetzt und leitete hier die Forstverwaltung des Distrikts.

"Wie sah Gerdauen aus, als Sie es 1960 wiedersahen?" frage ich. "Wirtschaftlich schwach. Wir hatten zum Beispiel in unserer Verwaltung nur zwei Lastwagen. Aber unter meiner Leitung wurden dann viele Maschinen angeschafft." Er zählt die Maschinen auf, die unter seiner Leitung angeschafft wurden. "Dann wurde es in Gerdauen langsam besser. Zwischen 1972 und 1975 ging es hier allen gut." Nachdem Vera mir dieses übersetzt hat, fügt sie nur für mich hinzu: "Das stimmt gar nicht. In jenen Jahren litten wir hier die größte Not." Nikolajew fährt fort: "1976 wurde ich in den Ruhestand versetzt. Aber ich arbeitete trotzdem noch siebzehn weitere Jahre in der Gerdauener Forstverwaltung." Während des ganzen Gespräches benutzten sowohl Vera wie er, wenn sie russisch redeten, den deutschen Namen "Gerdauen" statt des russischen "Schelesnodroschnij". (Ich selbst kann nur wenig Russisch, habe mich aber soweit eingehört, daß ich manche Antworten schon verstanden habe, bevor sie mir übersetzt werden.) Nikolajew schließt die Schilderung seiner beruflichen Laufbahn mit dem Satz: "Jetzt sitze ich hier und habe den ganzen Tag Feierabend", wobei er milde lächelt. Wir lächeln mit ihm.

"Haben Sie noch weitere Fragen?" möchte er wissen. Ich habe nicht und Vera auch nicht. "Dann möchte ich etwas von Ihnen wissen", sagt er. "Warum fragen Sie mich das alles?" Ich erzähle ihm, daß ich mich für die Geschichte Gerdauens interessiere und insbesondere für die Zeit ab 1945, die für uns Deutsche weitgehend ein unbekanntes Kapitel ist. Vera übersetzt es ihm und fragt mich danach, ob sie nicht auch erzählen soll, daß meine Familie aus Gerdauen kommt. "Ja, klar" sage ich. So erzählt Vera, daß meine Großeltern ein Geschäftshaus am Markt hatten, das heute wie fast alle Häuser dort nicht mehr steht; es befand sich neben dem Grundstück, auf dem heute ein kleiner Brotverkauf steht, schildert sie ihm.

Da richtet sich Nikolajew in seinem Sessel auf. "Das Haus", sagt er im Ton einer triumphalen Ankündigung, "das Haus gegenüber dem Stalin-" (er verbessert sich) "Lenindenkmal, das haben – ich weiß es genau, denn eine Russin, die Kriegsgefangene bei den Deutschen war, hat es mir erzählt – das Haus haben die deutschen Soldaten gesprengt."

Das ist nun eindeutig gelogen. Während uns Nikolajew noch der Wirkung seiner Worte überläßt, ist er schon aufgestanden und schreitet gravitätisch zum Bücherschrank. Er entnimmt ihm ein Blatt Papier und ein Foto. Er reicht uns das Foto, es zeigt ihn in jüngeren Jahren mit energischer Miene und einer Jacke voller Orden. Nikolajew erläutert die Auszeichnungen: ein Alexander-Newski-Orden, ein Polnischer Verdienstorden, zwei Rote-Fahne-Orden und eine Menge Medaillen. Als ich das Foto mit seinem jetzigen Aussehen vergleiche, fällt mir auf, daß er sich nicht sehr verändert hat, und wenn ich aus dem Sessel zu ihm aufblicke, halte ich es für gut möglich, daß er zu anderen Zeiten Furcht eingeflößt hat; mit seinem etwas selbstherrlichen Auftreten und seiner erkennbaren Unduldsamkeit war er dem Anschein nach mal ein unerbittlicher Vorgesetzter.

Er legt das Foto beiseite und liest uns das Blatt, das er in der Hand hält, vor, mit gehobener Stimme und leicht geblähter Brust. Es ist eine Anerkennungsurkunde Stalins. Stalin dankt dem Oberst darin für seine Teilnahme bei der Einnahme der Städte Minsk, Vilnius, Friedland, Prenzlau, Anklam, Neubrandenburg, Waren, Rostock, Bad Doberan und noch etwa zehn bis fünfzehn anderer Städte. Bei der Nennung des Ortes Waren fällt mir das Schicksal der Familie des Gerdauener Arztes Dr. Jacobsen ein. Seiner Frau war mit ihren vier Töchtern die Flucht bis Waren in Mecklenburg geglückt. Ende April wurde die Stadt von der Roten Armee eingenommen. Um den Gewalttaten der sowjetischen Soldaten zu entkommen, tötete die Frau sich und ihre Kinder.

Als Nikolajew die Lesung des Dokuments beendet hat, bittet Vera um das Blatt. Es trägt im Kopf ein Porträt Stalins, Vera fragt, ob auch die Unterschrift auf der Urkunde von Stalin ist. Der Oberst verneint etwas verlegen. Er erwähnt dann noch, daß dieses nur eine Fotokopie ist, das Original habe er dem Museum von Friedland geschenkt. Dort sei es ausgestellt.

Wir brechen auf. Nikolajew möchte zum Schluß seine Deutschkenntnisse unter Beweis stellen. Er zitiert einen früher gelernten Satz: "Wollen wir zusammen in die Kantine gehen?" Er wird dabei etwas rot, und ganz rot, als wir ihn loben. – Wir danken ihm für das Gespräch und sagen noch ein paar Komplimente, Nikolajew verabschiedet sich von uns, ohne Händedruck wie schon bei der Begrüßung.

Später im Auto fragt unser russischer Fahrer, ein siebzigjähriger ehemaliger Offizier, wie es war. Ich erzähle es kurz und sage dann: "Alle einfachen Russen, die ich in Gerdauen gesprochen habe, haben die Wahrheit gesagt, auch wenn es Nachteiliges war. Der einzige, der gelogen hat, war der Oberst." – "Das wundert mich nicht," sagt der Ex-Offizier. "Das ist die Schulung der Roten Armee."

 
     
     
 
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