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Warum nicht im Jahre 1772 anfangen?

 
     
 
Wie Polens Außenminister Wladyslaw Bartoszewski die Rechte von Vertriebenen und wie er deutsch-polnische Geschichte sieht, darüber legte er in einem Interview der „Welt am Sonntag“ am 26. August Zeugnis ab. Die Frage nach der Vorbereitung Polens auf eventuelle Klagen deutscher Vertriebener auf Rückerstattung beantwortete er so: „Überhaupt nicht. Wenn man solche Ansprüche stellt, muß man erst mal die Grenze festlegen. Warum nicht 1772 anfangen, beim Angriff Preußens auf Polen, Germanisierung der polnischen Gebiete, Teilung der polnischen Gebiete, Teilung des polnischen Staates, Vertreibung der Menschen nach Sibirien? Die Ansprüche sind nicht berechtigt. Die meisten sind ohnehin keine Vertriebenen, sondern die Kinder und Enkel von Vertriebenen.“

Es fällt schwer, auf soviel Ignoranz und Ungereimtheiten mit der gebotenen Sachlichkeit zu entgegnen. Jeder weiß, daß Preußen Vergleichbares wie die Vertreibung der Deutschen durch Polen nicht angelastet werden kann, auch konnte kein Deutscher Polen nach Sibirien vertreiben. Selbst wenn die abenteuerlichen Aussagen des Außenministers
als richtig unterstellt würden, was sie ja nun wirklich nicht sind, wären derartige Geschehnisse heute ohne Belang. Kein Deutscher, geschweige denn Deutschland, hält heute einen Polen von seinem Besitz fern oder läßt ihn nicht in seine Heimat zurückkehren. Es gibt also kein Problem polnischer Anspruchsberechtigter gegenüber Deutschland, denn die bezeichneten Gebiete gehören seit langem zu Polen. Was soll der absurde Exkurs in die Geschichte? Bartoszewski hält aber auch die Ansprüche nicht für berechtigt. Das für einen demokratischen Rechtsstaat selbstverständliche Erbrecht will er nicht kennen. Welches Verständnis über Menschenrechte und welches Demokratieverständnis wird hier offenbart?

Auf dem Weg zu einer europäischen Wertegemeinschaft müssen bei diesem Außenminister wohl noch einige Grundansichten verändert werden. Zu stark macht sich nationalistisches Denken immer wieder bemerkbar. Bartoszewski, bei uns gern als Mann des Ausgleichs und der ausgestreckten Hand gesehen, versetzt uns nicht zum ersten Mal in Erstaunen. Selbst in seiner vielgelobten Rede vor dem Deutschen Bundestag am 28. April 1995 konnte er es nicht unterlassen, die Grenze an Oder und Neiße als Existenzfrage für die Polen und ihren Staat zu erklären. Lebensraumthese auf polnisch!Es ist eine der Merkwürdigkeiten der heutigen Zeit, daß nationalistische Töne dieser Art bei uns gar nicht registriert werden, wenn sie denn von einem Ausländer kommen.

Noch warten wir auch auf eine Entschuldigung Polens an die deutschen Vertriebenen. „Wir beklagen das individuelle Schicksal und die Leiden von unschuldigen Deutschen, die von den Kriegsfolgen betroffen wurden und ihre Heimat verloren haben“, so Bartoszewski in derselben Rede am 28. April 1995 vor dem Bundestag. Was von vielen als Geste der Versöhnung und des Einverständnisses der Vertreibungsverbrechen bejubelt wurde, kann indes nicht zufrieden stellen. Man denke an den Aufschrei, der eingesetzt hätte, wenn ein deutscher Politiker die Opfer der NS-Diktatur nur beklagt hätte, aber eine Entschuldigung verweigern würde. Auch dieses Beispiel zeigt, wie schnell ausländische Politiker bei uns schöngeredet werden und uns noch ein langer Weg bevorsteht, ehe im zusammenwachsenden Europa annähernd gleiche moralische Maßstäbe gelten und nationalistische Denkweisen ausgeräumt sind. Polens Außenminister sei angeraten, endlich einen Schritt auf die Vertriebenen zuzugehen und ein Zeichen zu geben, daß Polen sich seiner Vergangenheit stellt. Nur so werden Probleme beiseite geräumt, die unsere Zukunft belasten. Es wäre gut, wenn die hoffnungsvollen Ansätze polnischer Intellektueller zur Aufarbeitung der Vertreibung der Deutschen auch Eingang fänden bei der polnischen Regierung. Rudi Pawelka

 
     
     
 
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