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Was ist der Mensch?

 
     
 
Dem am 9. Mai 1883 in Madrid geborenen Philosophen José Ortega y Gasset wurde eine ausgesprochene "Germanophilie" nachgesagt Und in der Tat waren die Bindungen Ortega y Gassets an Deutschland mannigfaltiger Natur So studierte er ab 1904 u. a. in Marburg/Lahn bei dem bekannten neukantianische Philosophen Hermann Cohen (1842–1918). Es folgte ein weiterer Aufenthalt in Deutschland in der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Bei diesem Hintergrund kann es nich verwundern, daß es insbesondere deutsche Philosophen wie Hegel
, Dilthey oder Nietzsch waren, die auf das Denken Ortega y Gassets einen nachhaltigen Einfluß ausübten.

Zeit seines Lebens wehrte sich Ortega y Gasset gegen die Verabsolutierungen eine formalen, abstrakten Vernunft, die ihren Ausruck insbesondere im Rationalismus Relativismus oder Skeptizismus fand und findet. Im gleichen Maße wandte er sich aber auc gegen die Übersteigerungen eines irrationalen Lebensbegriffs (Stichwort "Vitalismus"). Beiden Strömungen setzte er seine als "Ratiovitalismus" bezeichnete Lebensphilosophie entgegen, diese baut insbesondere auf dem zentralen Begriff der "vitalen Vernunft" auf, den er 192 in seinem kulturpolitischen Essay "Die Aufgabe unserer Zeit" einführte Kategorisch fordert Ortega y Gasset in diesem Werk, daß die "reine Vernunf zugunsten der vitalen Vernunft abtreten" müsse. Diese Formel wendet sic insbesondere gegen die seit René Descartes’ "Discours de la methode" (1637) durch die "physikalisch-mathematische Vernunft" begründete Deutung de Menschen und der Welt. Diese sei aus der Sicht Ortegas letzten Endes auf den fundamentale Irrtum eines intellektualistischen "Naturalismus" zurückzuführen, der seine Ursprung bei dem griechischen Philosophen Parmenides genommen habe. Dieser Grundirrtu resultiere aus einer Sichtweise, Wirklichkeiten, seien es nun Körper oder nicht, so zu behandeln, als wären es Ideen, Begriffe oder Identitäten.

Dem gegenüber beharrt Ortega darauf, daß einzig und allein "Schwierigkeiten un Möglichkeiten, um zu existieren, also Geschichtlichkeit", bestimmend für "di Wirklichkeit des Menschen" seien. Diese Sichtweise verrät eine gewisse Nähe zu Gedankenwelt des Existentialismus, insbesondere aber zur Philosophie eines Jean-Pau Sartre oder Albert Camus.

Das Leben wird von Ortega als Summe der zur Selbsterhaltung notwendigen Handlungen un Verhaltensweisen gedeutet. Diese beschreibt Ortega in seinem 1957 erschiene soziologischen Werk "Der Mensch und die Leute" als "Grundwirklichkeit de Menschen". Diese "Grundwirklichkeit" kennzeichnet Ortega als "Welt de interindividuellen Beziehungen zwischen Du, Er, Wir und Gesellschaft.

In Ortegas mit Abstand bekanntestem Werk, dem 1929 erschienenen kulturphilosophische Essay "Der Aufstand der Massen", macht dieser die liberale Demokratie für die Aufhebung der für das menschliche Zusammenleben grundlegenden Unterscheidung von Mass und Elite verantwortlich. Deren Forderung nach "Gleichheit aller Menschen" un die egalisierende Wirkung der Entwicklung von Wissenschaft, Industrie und Technik sind au der Sicht Ortegas die Ursache für die Neigung des Massenmenschen zu ungerichtete "Aggressivität", die dieser beispielhaft im italienischen Faschismus und in spanischen Syndikalismus am Wirken sah.

In diesen Bewegungen zeigte sich Ortegas Auffassung gemäß "zum ersten Mal in Europa ein Menschentyp, der weder Gründe angeben noch recht haben will, sondern einfac entschlossen ist, seine Meinung aufzuzwingen".

Im Unterschied zur liberalen Demokratie, in der die Mehrheit den Minderheiten ihr Rech gewähre und entschlossen sei, "mit dem Feind zusammenzuleben", weshalb die liberale Demokratie der Prototyp der "indirekten Aktion" sei, vertrete der neu Menschentyp die "direkte Aktion". Dieser setze seinen Willen mit Gewal "über alle indirekten Instanzen – Dienstwege, Vorschriften, Höflichkeit vermittelnde Gepflogenheiten, Gerechtigkeit, Gründe – hinweg durch". Den "die Masse", so Ortega, "wünscht kein Zusammenleben mit dem, was sie nich ist. Sie haßt auf den Tod, was sie nicht ist".

Im Gegensatz zu Oswald Spengler und dessen pessimistischem Werk "Der Untergang de Abendlandes" (1918–1922) aber geht Ortega nicht von einem Untergang de europäischen Kulturen aus. Ortega ist vielmehr von der Zukunft Europas überzeugt "Der Aufstand der Massen kann in der Tat der Übergang zu einer neuen unvergleichbaren Organisation der Menschheit sein."

Ein untrügliches Kennzeichen des Unterganges wäre aus der Sicht Ortegas ein Rückgan der Vitalität. Davon sei in Europa aber nichts zu spüren: Niemals habe der Mensch, s Ortega, so unbegrenzte Lebensmöglichkeiten besessen. Als bedenklich erachtet Orteg freilich das mangelnde historische Bewußtsein, daß sich "vielleicht unverhüllte als irgendwo bei der Masse der Techniker selbst, bei Ärzten, Ingenieuren" usw zeige. Es erweise sich, daß der "heutige Wissenschaftler das Urbild de Massenmenschen ist", weil "die Wissenschaftler selbst, die Wurzel de Zivilisation", ihn unentrinnbar "zum Primitiven, zu einem moderne Barbaren" machen. Dieser Typus des "Fachidioten" sei eine "überau ernste Angelegenheit", weil "er sich in allen Fragen, von denen er nicht versteht, mit der ganzen Anmaßung eines Mannes aufführen wird, der in seinem Fachgebie eine Autorität ist".

Aus heutiger Warte aktuell sind insbesondere diejenigen Gedanken Ortega y Gassets vo Interesse, die dieser in "Der Aufstand der Massen" zur Integration Europa entwickelt. Nur von Europa, nicht aber von Amerika könne aus der Sicht Ortegas in Zukunf ein neuer Impuls ausgehen. Dieser könne aber nur dann zustande kommen, wenn das Europ der Nationalstaaten und der Diktaturen überwunden werde und neue politische Formen in Geiste des Liberalismus an die Stelle der liberalen Demokratie alter Prägung träten.

Ortegas Gedanken zur europäischen Integration, insbesondere seine Ausführungen übe die Wirtschaft, der arbeitsteiligen Produktion und des Gemeinsamen Marktes in eine geeinten Europa sind heute im Kern verwirklicht. Ob diese Integration freilich ein Spaltung Europas ausschließt, die Ortega als Gefahr gesehen hat, wird die Zukunf erweisen müssen.

Ortegas bleibende Leistung besteht darin, unseren Blick auf ein Moralverständni gelenkt zu haben, das von den menschlichen Vitalinteressen ausgeht und als Bezugsebene da Leben wählt. Im Sinne einer Güterabwägung und Präferenzordnung orientiert Ortega sei Modell einer sittlichen Werterangordnung an der Natur, deren Teil die Natur des Mensche ist. Die natürliche Ordnung darf aber nicht als Modell für eine humane Moralordnun mißdeutet werden; letztere darf die erstere nicht verletzen. Aus dieser Annahme leite Ortega seinen zentralen moralphilosophischen Leit- und Grundsatz ab: "Die Sorge u das, was sein soll, ist nur dann anerkennenswert, wenn sie die Achtung vor dem, was ist ausgeschöpft hat."

Problematisiert hat Ortega weiter das jahrtausendealte Phänomen, das jene kau gelöste Frage berührt, weshalb der Mensch auf die immer gleichen Fragen, denen er in seinem Dasein in der Welt begegnet, zu sehr unterschiedlichen Antworten findet. Es genüg nicht, die Wissenschaft in Beschränkung auf die Natur als Gegenstand der (positiven Wissenschaften zu begreifen. Es müsse vielmehr, so Ortega, eine überzeugende Antwort au die Frage "Was ist der Mensch?" gefunden werden. Eine Antwort hierauf abe vermag nur die Philosophie zu leisten, weil die Grundspannung in der moderne Industriegesellschaft nicht allein in der Dialektik des vitalen Spannungsfeldes sic selbstregulativ verändert, sondern diese auch mitunter übersteigt. Das Ziel ist nich das Leben, sondern liegt jenseits des Lebens als ein etwas, an dessen Stelle ich mei Leben setze. "Der Mensch ist ein Tätigkeitspotential", sagt Ortega. Sei Verständnis liege in der Vitalsphäre, innerhalb der wir Menschen unser Lebensprogram aus einer Berufung zum Glücklichsein zu verwirklichen bestrebt sind.

Die vitale Gesundheit zu sichern, um diese als die Voraussetzung "für geistig und moralische Gesundheit zu erhalten", ist für Ortega ein Grundprinzip. Grundlag des Humanismus sind aus der Sicht Ortega y Gassets biologische Werte, die er in "vital gut" und "vital schlecht" einteilt. Diese Einteilung ha Bedingungscharakter auch für die Sphäre der moralischen Werte: "Tritt die Ethi auf", so Ortega, "wird es am Platz sein zu erörtern, ob das moralisch Gute un das moralisch Schlechte mit jenen anderen vitalen Werten übereinstimmen oder nicht."

Das Festkleben am Leben mit dem Ziel, nur ja eines natürlichen Todes zu sterben erweist sich als eine der menschlichen Natur inadäquate Empfindung, eine animalische For des Lebensvollzugs, die "eine würdige Moral" nicht ersetze: "Eine höher Moral müßte dem Menschen zeigen, daß er sein Leben besitzt, um es sinnvoll in Gefahr zu bringen", urteilt der Spanier.

Ortega y Gassets Lebensphilosophie ist heute deshalb so aktuell, weil die modernen hedonistisch-materialistisch geprägten europäischen Gesellschaften mehr denn je ein Orientierung suchen. Diese Orientierungssuche sah Ortega voraus. "Die eigentlich Aufgabe unserer Zeit", so Ortega, "besteht darin, eine Ordnung der Welt vo Standpunkt des Lebens aus zu versuchen". "Das Leben" bedarf aus seine Sicht "keines bestimmten Inhalts, keiner Askese und keiner Kultur, um Wert und Sin zu haben". Nicht anders "als Gerechtigkeit, Schönheit und die ewige Seligkei ist das Leben an und für sich ein Wert".

Mit dieser Sichtweise seien die anderen Werte nicht tot, aber ihre Rangordnung hab gewechselt. So trete z. B. an die Stelle der Arbeit, die das 19. Jahrhundert vergötz hätte, ein anderer Typus der Anspannung, "der nicht aus einem auferlegten Gebo entspringt, sondern als freier, verschwenderischer Antrieb aus der Leidenschaft quillt der Sport". Dieser Antrieb stelle die Grundlage für "wissenschaftliche un künstlerische Schöpfung, politisches und moralisches Heldentum, die Religiosität de Heiligen", einen "der allgemeinsten Züge des neuen Weltfühlens dar" "Ich sehe jeden Menschen, der mir begegnet", so schrieb Ortega einmal "gleichsam von seinem idealen Schattenriß umgeben; er verdeutlicht, was sei individueller Charakter im Falle der Vollkommenheit wäre." Der Mensch ist das mi seinem vitalen Programm jederzeit identische Ich. Er gestaltet sein "innere Schicksal" im Streben nach Glück, und Glück bedeutet Vollkommenheit Näherhin Glück bedeutet die Humanität, die sittliche Persönlichkeit im Sinne Goethes. Dies Einsicht besagt, daß wir vollendetes Glück dann erfahren, wenn das entworfene Leben mi dem gelungenen Leben übereinstimmt bzw. wenn sich die Lebenswirklichkeit mit der Idee vo Menschen ideal zu verbinden vermag
 
     
     
 
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