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Weib Wein und Witiko

 
     
 
Adalbert Stifters Novelle "Der Hochwald" ist seine bekannteste Erzählung. Eingeleitet wird sie mit einer Beschreibung der Gebirgswälder, die aus dem Moldautal auf böhmischer Seite den Dreisessel emporsteigen.

Auf dem Scheitel der Waldmassen treffen sich Bayern, Böhmen und Österreich. Der Dreisessel ist ein vegetationsloses Granitmassiv, das der Sage nach die Throne des Kaisers von Österreich und der Könige von Bayern und Böhmen darstellt. Hier vereinen sich gewissermaßen die Bemühungen der Nachbarn, das für 2005 - zum 200. Geburtsjahr des Dichters - geplante "Stifter-Jahr" mit Leben zu erfüllen.

Längst laufen die Vorbereitungen für eine nach Stifters berühmtem Roman "Witiko", der "Ilias des Böhmerwaldes", benannte Kulturroute. Sie soll von Passau via Dreisessel ins Moldautal und nach Krumau führen und in Wittingau, dem Hauptort der Wittigonenregion in Südböhmen, enden.

Die Route soll landschaftliche und kulturelle Sehenswürdigkeiten verknüpfen, die mit dem 1805 im böhmischen Oberplan geborenen und 1868 im österreichischen Linz gestorbenen Stifter zu tun haben. Und sie soll historischen Nachhilfeunterricht erteilen und zeigen, welchen Sondercharakter Passau zeitweise als de facto kaiserliche Nebenresidenz hatte, wie der in die Zeit des Witiko-Romans fallende Aufstieg des oberösterreichischen Mühlviertels zur Kultur-und Geschichts
landschaft aussah und welche zentrale Rolle Böhmen als Teil des bis nach Süditalien reichenden Stauferreiches besaß.

Doch der Dreisessel ist nicht nur für eine großangelegte kulturgeschichtliche Rückschau prädestiniert, er ist auch ein Ort, der an die menschliche Tragik des Adalbert Stifter erinnert. Denn auf seinen langen Wanderungen vom Moldautal zu den erhabensten Höhen des Böhmerwaldes plagten den Dichter tiefe Depressionen, die sich angesichts der Naturgewalten nicht beruhigten, sondern eher noch verstärkten.

Für jeden Werkinterpreten lassen sich diese Depressionen am leichtesten am Scheitern der Beziehung zu der über alle Maßen geliebten Fanny Greipl festmachen, der Tochter des Leinenkaufmanns von Friedberg (tschech.: Frymburk). Friedbergs Stadtbild hat sich heute bis zur Gesichtslosigkeit verwischt und ist nicht zu vergleichen mit den herrlichen Beispielen der südböhmischen Renaissance, wie man sie in Krumau, Trebon oder Tabor und selbst im 100 000 Einwohner zählenden Budweis nach wie vor findet.

Dafür liegt Friedberg am überwältigend schönen Moldausee, dem mit fast 50 Quadratkilometern größten Binnenstausee Europas. Sein Bau wurde 1960 begonnen und erst vor wenigen Jahren beendet.

Auch Stifters Heimatort Oberplan (tschech.: Horní Planá) liegt am Ufer des Moldausees. Vor Oberplan öffnet sich dieser zum vielarmigen Weitsee, der sich von hier aus noch an die 45 Kilometer hinzieht. An klaren Oktobertagen begrenzen die Silhouetten der Alpen den Horizont.

Stifters einstiges kleines Haus ist unverändert geblieben, beherbergt heute ein Museum und belegt, daß die nach Oberplan zugezogenen Tschechen mit diesem deutschen Böhmen nie Probleme hatten.

Neben dem Museumsgebäude steht das Elternhaus des Dichters, in dem das im April 2003 eröffnete "Adalbert-Stifter-Zentrum" sein Domizil hat, das als zweisprachige kulturelle und vor allem literarische Begegnungsstätte inzwischen einen grenzüberschreitenden guten Ruf genießt.

Besondere Bedeutung besitzt das Studienzentrum für den kulturellen, wissenschaftlichen und organisatorischen Austausch der jüngeren Generation der deutschen Minderheit, aber auch für die Beschäftigung mit der Lage von Minderheiten in Tschechien allgemein.

Doch zurück zur Biographie Stifters, genauer gesagt zur Pathologie seines Lebens, zu der das dichterische Werk das mit Trauer und Sehnsucht angefüllte Gegenbild darstellt. Denn der "schrecklichen" realen Welt setzte Stifter den Traum einer "christlich-humanistischen harmonia mundi" entgegen.

Der Sohn einer Häusler- und Weberswitwe war für die nach örtlichen Maßstäben wohlhabende Kaufmannstochter Fanny Greipl schlicht und einfach zu arm. Auch deshalb übte Geld eine dämonische Macht auf ihn aus.

Für Fannys Eltern war spätestens seit 1833 klar, daß eine Ehe ihrer Tochter mit dem mittellosen Studen­ten, Nachhilfelehrer, Vorleser und Maler aus dem Oberplaner Weberhäuschen nicht in Frage kam. 1832 hätte Stifter aus Sicht der Familie Greipl die letzte Chance gehabt, einen "ordentlichen" Beruf zu ergreifen, nämlich den eines Professors für Physik an der Universität Prag.

Tatsächlich legte er auch die nötigen schrift­lichen Prüfungen ab, "vergaß" dann allerdings, zur ent­scheidenden mündlichen Prüfung anzutreten. Der Dichter ent­schuldigte sich später damit, daß er spazierengegangen sei. Leinwandhändler Greipl kommentierte dies mit den Worten: "Er könnte auch einmal vergessen, daß er eine Frau hat."

Fanny hat sich kurz darauf von Stifter abgewandt und 1837 den Finanzbeamten Josef Fleischanderl geheiratet. 1839 starb sie 31jährig im oberöstereichischen Wels bei der Geburt eines Sohnes, der sie nur um Wochen überlebte.

Es bleibt ein kleines Wunder, daß Adalbert Stifter doch noch die Karriereleiter emporkletterte, obwohl er zeitlebens ein klasssischer Versager in allen "äußeren" Dingen war. Er wurde als Landesschulrat höherer Beamter von Oberösterreich und avancierte zum Modeautor.

Von der Mitte des Jahrhunderts an bezog er ein Jahresgehalt von 1500 und ab 1855 von 1800 Gulden. Die Leiter der Schulen, die er zu beaufsichtigen hatte, erhielten nur ein Drittel bis ein Viertel davon. Hinzu kam ein Dauervorschuß von 1200 Gulden pro Jahr, auf den er sich 1846 mit seinem Verleger Gustav Heckenast geeinigt hatte.

Selbst Erfolgsschriftsteller wie die Schweizer Gottfried Keller oder Jeremias Gotthelf erreichten nur Honorare von einem Fünftel bis zu einem Viertel der Einnahmen ihres Oberplaner "Kollegen". Gleichwohl läßt dessen Lebensweg eine nicht enden wollende Folge akuter Geldnöte erkennen.

Eine wesentliche Ursache trägt bizarre und erschütternde Züge: Der Dichter betrieb eine einzigartige Völlerei, die gewiß kein Erbteil der kargen heimatlichen Landschaft ist. Essen und Trinken besaßen für Stifter Drogencharakter. Laut Untersuchung seiner Lebenszeugnisse durch Mediziner nahm er seine sechs täglichen Mahlzeiten (mit je drei Gängen!) vor allem als Beruhigungsmittel in depressiven Unruhezuständen und bei Panikattacken ein, desgleichen alljährlich zwischen 600 und 800 Liter Wein. Sein kontinuierlicher gesundheitlicher Abbau und die tödliche Leberzirrhose können vor diesem Hintergrund nicht verwundern.

Die völlig anders gearteten Gestalten seiner Dichtungen mit ihrem asketischen Wesen unterstreichen die Tatsache, daß man bei Künstlern nicht genau genug zwischen Werk und eigenem Leben unterscheiden kann. Dietmar Stutzer/ Martin Schmidt

Im Elternhaus des Deutschböhmen befindet sich heute ein zweisprachiges "Stifter-Zentrum" /font>

 
     
     
 
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