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Wendepunkte deutscher Geschichte

 
     
 
Noch einmal war er in den Deutschen Bundestag gekommen, als 81jähriger, hatte neben Doris Schröder-Köpf auf der Zuschauertribüne Platz genommen. Immer wieder schnitten die Fernsehkameras Rainer Barzels nachdenkliches, bereits von schwerer Krankheit gezeichnetes Gesicht in die Debattenbeiträge dieses 1. Juli 2005. Die rot-grüne Koalition inszenierte an diesem Tag ein Mißtrauensvotum gegen Kanzler Gerhard Schröder
, um alles auf die Karte Neuwahlen zu setzten.

Alte Wunden schmerzen besonders: 33 Jahre zuvor hatte der damalige CDU-Vorsitzende das politische Geschick Deutschlands in der Hand, als er mit einem Mißtrauensvotum Bundeskanzler Willy Brandt ablösen konnte. Erst später flog auf, daß der DDR-Staatssicherheitsdienst mit kriminellen Mitteln in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingegriffen hatte, mindestens zwei Unionsabgeordnete waren bestochen und die Mitwisser in der SPD schwiegen dazu.

Auf dem Höhepunkt seiner politischen Laufbahn steht eine Niederlage, die keine war. Barzel akzeptierte, verlor dann aber im Herbst die vorgezogenen Neuwahlen gegen einen bis dahin beispiellosen links-intellektuell-sozialdemokratischen Pakt, der sich – bis heute – darauf verschworen hat, den gesellschaftlichen Wertekatalog zu diktieren.

Rainer Barzel konnte da nicht gegenhalten. Er verstand sich zwar darauf, geschickt Macht zu organisieren, doch als Massentribun war er nicht geboren. Barzel war am 20. Juni 1924 im katholischen Braunsberg in Ostdeutschland auf die Welt gekommen, hatte Standhaftigkeit und Prinzipientreue nie ablegen können. Als Jesuitenschüler in Berlin brillant rhetorisch ausgebildet, war er im katholischen Glauben verwurzelt.  Wie sehr sein Handeln und seine Wertmaßstäbe aus christlicher Überzeugung bestimmt waren, wird besonders deutlich, wenn man Barzel mit dem Koordinatensystem der heutigen Politiker in Bezug setzen  wollte.

Anders als Politiker von heute hatte Barzel einen Sinn dafür, Ämter aufzugeben, wenn die Stunde gekommen war. Kein Würgen bis zum Letzten, bis Amt und Person jedes Ansehen eingebüßt haben.

Nach der verlorenen Wahl 1972 gab Barzel den CDU-Fraktionsvorsitz an Karl Carstens ab, wenig später den Parteivorsitz an seinen Widersacher Helmut Kohl. Es war für ihn keine Frage, als Bundestagspräsident 1984 zurückzutreten, als im Zuge der Flick-Affäre eine Steuergeschichte gegen ihn konstruiert wurde. Es stellte sich heraus, daß an der Sache nichts war, doch sein Rückzug aus der Politik war endgültig. 1987 verzichtete er auf eine erneute Kandidatur für den  Bundestag.

Schon einmal, 1977, mußten seine Freunde die Luft anhalten. Barzels Tochter Claudia hatte sich mit 28 Jahren das Leben genommen, und selbst im verschwiegenen Bonn, das die Familien der Politiker in Ruhe ließ, ahnte jeder, wie stark Politik ins Private gehen konnte. Barzel stand diesen Schicksalsschlag durch, auch drei Jahre später den schweren Tod seiner Frau Kriemhild nach 32 Jahren Ehe.

1995 wieder eine Prüfung: Seine zweite Frau Helga Henselder-Barzel, die er als Vorsitzende der Welthungerhilfe unterstützt hatte, kam bei einem Autounfall ums Leben.

Nach seiner politischen Laufbahn schrieb Barzel viel und dokumentierte seine Entscheidungen. Doch Ostdeutschland läßt niemanden los: zusammen mit dem polnischen Regisseur Stanislaw Krzeminski drehte er für das ZDF den Erinnerungsfilm „Zu Besuch, aber nicht als Fremder“ über seine Heimat.  Mit seiner dritten Frau, der Schauspielerin Ute Cremer, lebte er bis zu seinem Tod am 26. August 2006 in München.

Seine Gegner hatten es Barzel zeitlebens leicht gemacht – er konnte sie am Zungenschlag erkennen: die seinen Taufnamen Candidus möglichst lange dehnten. Manche konnten Candidus mit schlichtem Latein gerade noch als „der Glänzende“ übersetzen. Doch das war nicht gemeint. Candidus, ein römischer Legionär und Märtyrer, hatte sich lieber hinrichten lassen als sich an der Ermordung von Christen zu beteiligen. Leitbilder, von denen man in der Kindheit hört, formen das Leben.
 
     
     
 
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