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Zeitreise an den Pregel

 
     
 
Vergeblich das Reisen", stöhnte einst der Dichter Gottfried Benn. Der Mensch sieht doch nur die Bilder, die er in seinem Inneren bereits mitbringt. Können wir aus dem Reisen denn tatsächlich nur das lernen, daß uns stets unsere vorgefaßten Meinungen begleiten und wir in ihnen doch stets gefangen bleiben? Und wenn man dann noch in einem alten komfortablen Rheingold-Speisewagen nach Ostdeutschland reist, entfernt das nicht noch zusätzlich von der Umgebung, die man eigentlich entdecken möchte?

Doch als der Zug einfährt, sind alle Bedenken wie weggeblasen. Herrlich altmodische Waggons sind es, alte Abteilwagen, Speisewagen mit goldenen Lettern, wie man sie aus alten Filmen zu kennen glaubt. Eine gewisse Euphorie stellt sich ein, denn ich fahre für mein Leben gern mit der Bahn. Man sieht mehr von der Landschaft, man kann umhergehen, lesen, dösen, tun, was immer man will.

"Der Weg ist das Ziel", verrät mir ein kleines gelbes Faltblatt, das ich nach dem Einstieg in die Hand gedrückt bekomme. Und in der Tat: so verschieden die Beweggründe für die Reise bei den Reisenden sind, sie alle wollen nicht lediglich auf dem schnellsten Weg zu irgendeinem Zielort. Ich selbst bin gespannt, wie sich das Land, das ich als 17jähriger mit einer Gruppe aus meiner heimatlichen Kirchengemeinde
– noch zu Edward Giereks Zeiten – 1977 bereist habe, verändert hat. Damals kamen nicht allzu viele junge Westdeutsche auf den Gedanken, in den Ferien ans Frische Haff zu reisen. Und das nördliche Ostdeutschland war so unerreichbar wie der Mond.

Die Lok rollt los. Nachdem ich mein Gepäck abgelegt habe und meine Platzkarte kontrolliert ist, inspiziere ich den Zug. Es ist wie eine kleine Zeitreise. Ich wandere durch einen verglasten Panoramawagen in mehrere hintereinanderliegende wunderbare alte Speisewagen. Der älteste stammt aus dem Jahr 1928 und ist kunstvoll mit Holz verkleidet. Er ist nicht auf Hochglanz gebracht, sondern hat die Patina seiner Innenausstattung behalten. Manche Waggons erinnern mit ihren hölzernen Türen, Wänden und den alten, liebevoll gepflegten Armaturen eher an Fähren aus der Vorkriegszeit denn an ein Eisenbahnabteil. Die meisten Wagen stammen vom alten Rheingold-Expreß. Schon der Name wirkt romantisch und weit entfernt. Die eigentlich für diese Fahrt auch angekündigten alten TEE-Salonwagen sind diesesmal nicht mit dabei. Man habe entdeckt, daß sie asbestverseucht seien, heißt es. Was mit ihnen passiert, weiß man noch nicht. Schade, aber nicht zu ändern. Doch das, was ich sehe, reicht, um mich ins Schwärmen geraten zu lassen.

Noch ist der Zug fast leer; die meisten anderen Mitreisenden steigen erst später zu: in Hannover oder in Berlin. Ich setze mich irgendwo hin und sehe auf die vielen kleinen Details, die mir nach und nach ins Auge springen und genieße still vor mich hin. Nur die vorbeiziehende Landschaft gemahnt bisweilen daran, daß ich mich im Jahre 1999 befinde. Der freundliche Ober bringt mir etwas zu trinken. Minuten des Behagens …

Unwillkürlich bringe ich diese ausgeglichene und harmonische Innenausstattung in Beziehung zu den heutigen "Bistro-Wagen" der Deutschen Bahn. Auch sie sollen ja ein wenig an die zwanziger Jahre, an das Zeitalter des Art déco erinnern, was ihnen aber nicht recht gelingt. Wie unharmonisch – sowohl von den Farben, dem Material, den Proportionen – wirkt das alles dagegen! Hier, in den historischen Waggons, hat man überall den Eindruck einer vornehm-zurückhaltenden Atmosphäre. Alles verströmt hier Ruhe und Gediegenheit.

Die heutigen Wagen mit dem postmodernen rosa Brimborium haben dagegen eher den Charme eines Schnellrestaurants. – Wo seid ihr geblieben, ihr livrierten, höflichen Ober, ihr wunderbaren Speisewagen mit den schweren Stoffvorhängen, den weißen, gestärkten Tischdecken, Tischlampen und den altmodischen Getränkehalterungen? Wohin hat uns diese "McDonaldisierung" des Fahrgastangebots geführt? – Gibt es denn statt der Bahnhofsauskunft nur noch "Service-points", statt der Kartenschalter nur "Ticket Counter", "db-lounges" statt Mitropa-Gaststätten und "McClean" statt Toiletten? Dieses ganze überdrehte, als Weltläufigkeit getarnte verspießerte Billigangebot – es ist weit, weit weg. Meine Ferien sind also auch Ferien von einer nüchternen und zugleich unpraktischen Gestaltung der heutigen Schienenfahrzeuge. Inzwischen füllen sich die Abteile, und ich wechsle in den Panoramawagen, dessen gesamte obere Hälfte verglast ist. Hier weist nun alles in die Landschaft.

Der Rheingold, vormals eine der schnellsten Verbindungen im Reich, zockelt nun auch auf Nebenstrecken. In den folgenden Tagen rattert er von Thorn nach Nikolaiken. Es sind Tage der Erholung in der wunderschönen masurischen Seenlandschaft. Von dort geht es dann einige Tage später weiter nach Sensburg, Allenstein, über Wormditt und Braunsberg an die Grenze ins nördliche Ostdeutschland. Die Stimmung ist etwas gespannt. "Jeder muß an seinem Platz bleiben! Niemand darf hin- und und hergehen! Aussteigen streng verboten! Fotografieren allerstrengstens verboten!" ruft die Stimme des polnischen Reiseleiters aus dem Lautsprecher. Die russischen Kontrolleure steigen vor Heiligenbeil zu. "Früher war es an der Grenze sehr schwierig. Aber von Mal zu Mal werden die russischen Grenzbeamten jetzt lockerer", verrät mir ein alter Hase in Sachen Königsberg-Fahrten.

Auf dem Weg von Heiligenbeil nach Königsberg wird die Fahrt vollends unwirklich. Der Gegensatz zur Tour durch das Ermland könnte nicht größer sein. Dort abwechslungsreiche Landschaft, durchaus propere Dörfchen und Städtchen, bestellte Felder, hier eine wuchernde Wildnis und Häuser in erbärmlichem Zustand. Von Landwirtschaft über weite Strecken keine nachweisbare Spur. Hüben wie drüben gleichen sich die alten preußischen Bahnwärterhäuschen aus Backstein mit ihren immergleichen, kleinen Vorbauten für die Gerätschaften. Doch wie trostlos wirkt hier das flache Land. Auf den Wiesen und früheren Äckern wachsen Schilf und saures Gras. Zum Ausgleich sieht man öfter freundliche, winkende Kinder und auch winkende Erwachsene entlang der Bahnstrecke. Sie sind ein wahrer Balsam in dieser traurigen Atmosphäre. Ein kleiner, etwa zwölfjähriger Angler blickt auf, als wir langsam vorbeifahren. Der Zug wird bestaunt wie ein Zeuge aus einer anderen Welt.

Der Bahnhof des Dörfchens "Snamenka" zieht vorbei. Jugendliche haben ein Graffito am Bahnhofsgebäude angesprüht: "Groß Hopfenbruch" steht da auf Deutsch – freilich nicht ganz korrekt – und in ungelenken lateinischen Lettern. Vielleicht ein Willkommensgruß, vielleicht aber auch nur das unbestimmte Gefühl, daß der russische Kunstname der Geschichte irgendwie nur ungeschickt aufgestülpt ist. Im Gegensatz zu den polonisierten Namen im südlichen Ostdeutschland, die doch häufig vom Laut an die alten deutschen, prussischen oder masurischen Bezeichnungen erinnern, erfanden die Russen Ende der 40er Jahre, als sie Orte, Flüsse und Berge umtauften, völlig neue Namen. – Die Polen vereinnahmten die Geschichte, indem sie behaupteten, es sei "wiedergewonnenes Land", die Russen sahen es als historische Tabula rasa. Das Vorhandene wollten sie nicht vereinnahmt, sondern ausgelöscht wissen. Die Geschichte sollte vernichtet, ungeschehen gemacht werden. Eine Utopie, bei der ich schwanke, ob ich sie für grausam, lächerlich oder einfach für vergeblich halten soll.

Langsam nähern wir uns der alten Stadt am Pregel. "Als die ersten deutschen Touristen nach Königsberg kamen", meint eine deutsche Reisebegleiterin, "haben viele erst einmal das innere Gleichgewicht verloren, als sie die völlig zerstörte Königsberger Innenstadt das erste Mal gesehen haben. Da haben sich herzzerreißende Szenen abgespielt. Inzwischen sind fast alle innerlich auf den schlimmen Zustand der Stadt vorbereitet. Und wenn man will, kann man heute wieder sehr hübsche Ecken in Königsberg entdecken. Die Villenviertel in Amalienau zum Beispiel. Oder Maraunenhof. Da bauen die "Neuen Russen", die es zu Geld gebracht haben, und restaurieren die wunderschönen alten Häuser." Ich bin gespannt. Denn sie will mir die Viertel selbst zeigen.

Mein privates Programm für Königsberg ist voller Termine: ein Besuch bei der Katholischen Sozialstation am Pregel, in der Nähe des Sackheimer Tors, ein Gespräch in der evangelischen Gemeinde und ein Besuch bei der Redaktion des "Königsberger Express", der deutschsprachigen Königsberger Monatszeitung. Die Not springt ins Gesicht. Überall bettelnde Kinder, sobald man sich mit einer Reisegruppe nähert – obwohl man die meisten während der Touristensaison einfach "wegsperrt", wie mir versichert wird.

Sobald man aber allein durch die Straßen geht und einen leidlich geschäftigen Eindruck macht, ist das alles verflogen. Ich sehe zunächst die wirklich bewunderungswürdige Arbeit der katholischen Sozialstation. Angeschlossen sind eine freundliche und geräumige Kirche, eine Krankenstation und eine Kleider- und Essensausgabe für Notleidende, von denen es in Königsberg wahrlich nicht wenige gibt. Daß alles aus nach und nach angebauten Containern besteht, bemerkt man zunächst kaum. Ich bin berührt von der Tatsache, daß alles so sichtbar vom Glauben getragen ist.

Der evangelische Pfarrer Erhard Wolfram und seine Frau empfangen mich kurzfristig, obwohl ich nicht angemeldet bin. Man sieht, es gibt viel zu tun. Eine Baustelle vor der Kirche muß beaufsichtigt werden, und das Haus ist voller Gemeindemitglieder – meist Rußlanddeutsche. Untereinander sprechen sie meist russisch. "Wie sieht es aus mit der Ein- und Auswanderung?" will ich wissen. "Es kommen zur Zeit wesentlich mehr her als weggehen", meint er. Rund um den neu erbauten, fast prächtigen Kirchen- und Gemeindebau ordnen sich inzwischen halbkreisförmig die etwas protzigen Villen der "Neuen Russen". "Das wird hier ein nobles Viertel", wird mir gesagt. Daher hält man es für sinnvoll, die sich langsam entwickelnde Sozialarbeit, wie Suppenküchen, in die Viertel zu verlegen, wo es "brennt". Hier in Amalienau gibt es weniger Sozialfälle.

Am nächsten Tag zurück mit unserem Zug: Draußen die Probleme – drinnen wird ein gepflegter Frankenwein serviert. Fast gespenstisch. Es geht weiter durch das Ermland nach Danzig. Was für ein Unterschied. Hier scheint die Welt, im Gegensatz zu den Königsberger Verhältnissen, geradezu in Ordnung zu sein. Die Reise klingt aus mit einem abendlichen Spaziergang durch die sommerliche Altstadt. Der Streifzug klingt so friedlich aus, wie sie begonnen hat. Wieder kommt mir das Gedicht von Gottfried Benn über das Reisen in den Sinn. Ganz gewiß hat diese Reise auch etwas in mir verändert. Und wenn man das sagen kann, dann ist sie nicht vergeblich gewesen.

 
     
     
 
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