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Die 1917 in Berlin geborene Publizistin Ursula Besser gilt als eine der kenntnisreichsten Personen aus dem politischen Umfeld der unmittelbar durch die Nachkriegsentwicklung geprägten CDU im einst geteilten Berlin. Aus dem Fundus ihres durch geopolitische und auslandswissenschaftlichen Studien (u. a. auch bei Albrecht Haushofer) geschärften Wissens überschaut sie noch immer genau die Wege und Perspektiven unseres politischen Werdens nach dem Ende der Teilung. In diesem Interview, das Peter Achtmann und Peter Fischer führten, beklagt die ehemalige Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhaus
es auch das geringe etatistische Denken der Westdeutschen und die Ferne der gegenwärtigen politischen Elite von unserer Geschichte, ohne deren Kenntnis bekanntlich keine sichere Perspektive für unser Volk entworfen und verwirklicht werden kann.

Frau Dr. Besser, Grüne und Sozialdemokraten haben nicht zuletzt unter Bruch mit ihrem Selbstverständnis, wie er sich durch die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg ergeben hat, bei ihren Wählern deutlich an Gunst verloren. Neben dem undurchsichtigen Geschehen auf dem Balkan wirken sich auch andere politische Entscheidungen der Regierungskoalition wie etwa die "Doppelte Staatsbürgerschaft", das "620-Mark-Gesetz" usw., nachteilig aus. Ist dies schon wieder die Stunde von CDU/CSU?

Ich denke, daß es noch zu früh ist, direkt schon wieder von einer Stunde der CDU/CSU zu sprechen. Es bündeln sich gegenwärtig eine ganze Reihe von besonders innenpolitischen Problemen, die sich im Laufe der Jahrzehnte aufgebaut haben und die, von wem auch immer, auf eine Lösung hin weiter verarbeitet werden müssen. Bislang ist allerdings von Rotgrün keinerlei für den Bürger glaubhafte Lösung vorgeschlagen worden. Das heißt also, wenn man nun zur CDU/CSU etwas sagen soll, es muß weiter fleißig daran gearbeitet werden, daß glaubhafte Lösungen auf den Tisch gelegt werden.

Die Abwahl von CDU/CSU war ja nicht nur eine Folge von entscheidenden Versäumnissen in der Vergangenheit, sondern insbesondere auch das Ergebnis eines Überdrusses an Kanzler Kohl, der lange, allzulange an der Spitze geblieben war. Nun sollte zwar in einer Demokratie das Sachargument wichtiger sein als die Struktur einer Persönlichkeit, aber der Mensch ändert sich nicht prinzipiell, so daß die Frage bleibt, wen können CDU/CSU nunmehr neu ins Feld führen?

Das ist eine Gretchenfrage, die Ihnen im Moment schwerlich einer beantworten kann. Ich sage mal freimütig, wenn ich die Wahl hätte, würde ich in der Tat Stoiber als den glaubhaftesten zur Zeit vorschlagen. Er scheint mir der Überlegenste zu sein. Ich halte sehr viel von Schäuble, aber man muß wissen, daß es fürchterlich schwierig ist, leider, ihn dem Wähler nahe zu bringen. Diese Vorbehalte der Wähler sind sicherlich berechtigt und wir können den Wählern nicht diktieren, was sie zu wählen haben. Die müssen berücksichtigen, wo sie sich am leichtesten dafür entscheiden können.

CDU und CSU sind von ihrem Selbstverständnis her nie nationale Parteien gewesen. Doch erweist sich allmählich, daß das immer stärkere Abrutschen dieser Parteien in das Lager eines unverbindlichen Liberalismus von Wählern wie von Sympathisanten kaum noch goutiert wird. Müßten hier nicht Lücken geschlossen werden?

Hier müssen ganz gewiß Lücken geschlossen werden. Die CDU/CSU hat absolute, also überlegene Mehrheiten gehabt und etwa unter Adenauer regiert in einer Zeit, als sie die Konservativen in ihren Reihen hatte, die sie auch tatsächlich gepflegt hat und pflegen mußte. Es gab immer eine gewisse Spannung zwischen den Konservativen und den Liberalen, das ist wohl wahr, aber wir haben immer Wert darauf gelegt, daß die Konservativen ein wichtiger Rückhalt in der Partei waren. Je mehr man das vernachlässigt, um so mehr wird man beliebig, das heißt, es ist dann egal, ob man CDU/CSU oder was anderes wählt. Deshalb meine ich schon, daß hier wieder ein stärkeres Gewicht auf die konservative Seite gelegt werden muß.

Franz-Joseph Strauß argumentierte einst, daß es rechts von der Union keine namhafte Rechtspartei geben dürfe. Heiner Geisler hielt Jahre später dagegen, daß er sich eine Koalition mit den Grünen durchaus vorstellen könne. Sollten CDU/CSU eher den immer stärker werdenden rechten Wählerrand im Blick behalten oder umgekehrt auf Stimmenfang um jeden Preis gehen?

Den Versuch, auf Stimmenfang um jeden Preis zu gehen unter der Vorgabe, wir kämpfen alle um die Mitte, hat die CDU meines Erachtens in der Vergangenheit gemacht. Ohne klare Position, ohne daß der Mensch, der wählen kann, sich auch wirklich identifizieren kann mit einer klaren Position der Partei, sei es im kulturellen, sei es im wirtschaftlichen Bereich, sei es auch in einem sozialwirtschaftlich geprägten. Ohne eine solche klare Position wird man eine Partei auf die Dauer nicht attraktiv halten können. Denn dann kommt man also zu dieser verwaschenen Geschichte, unter der jetzt offensichtlich auch die SPD zu leiden anfängt. Nach den neuesten Untersuchungen geht sie genau denselben Weg wie die Union vorher und man beschwört auf Dauer meines Erachtens nach eine Riesengefahr herauf.

Edmund Stoiber argumentierte unlängst, daß die Deutschen eher das gemeinsame Europa als Ergänzung, nicht aber als Alternative zu ihrer Nation ansehen würden. Kann nach dem Berliner Gipfel, bei dem es um die Finanzierung der Agenda 2000 ging und bei dem abermals, wie es anschließend hieß, allein die deutsche Delegation mit viel Geld die Idee Europa am Leben gehalten hat, noch von einer vitalen Gemeinschaft der Mitgliedsstaaten gesprochen werden?

Meines Erachtens wird bei dem Versuch, Europa zu einer alle verbindenden Idee zu erheben, eines übersehen: Daß es durchaus unterschiedliche kulturelle Felder in Europa gibt, d. h. diese kulturellen Felder haben auch jeweils ihre kulturelle Heimat. Und wenn dieser Kontinent nicht als Chor dieser kulturellen Heimat spricht, dann wird Europa meines Erachtens nicht zustande kommen. Dann kriegt man einen unübersichtlichen Bereich, in dem sich keiner richtig zu Hause fühlt und schafft damit eine Manipulierbarkeit, die lebensgefährlich werden kann. Der Mensch legt Wert darauf, daß er seine eigene Wohnung hat. Er wünscht nicht, in einem Park zu leben, wenn ich das mal so ausdrücken darf. Und darauf muß man auch an dieser Stelle Rücksicht nehmen.

Auch wenn das Völkerrecht in wesentlichen Teilen als eine Frage der Macht erscheint, so galt bis zum Balkankrieg unserer Tage, daß militärische Handlungen im Sinne völker- und menschenrechtlicher Zielsetzungen durch die Vereinten Nationen autorisiert werden mußten. Obschon Deutschland weiterhin im Banne der UN-Feindstaatenklauseln verblieben ist und insofern durchaus distanziert bleiben könnte, wirkt die ausgehebelte völkerrechtliche Kompetenz der UN auf die Bundesrepublik zurück. Was bedeutet dies für uns? Beginnt nun abermals ein Ringen um eine "neue Weltordnung" oder reguliert sich die Kriegspolitik nach dem bisherigen Völkerrecht zurück?

Es ist eine nicht leicht zu beantwortende Frage. Und zwar einfach deshalb, weil wir 50 Jahre Frieden in Europa dadurch gehalten haben, daß wir die Staaten, d. h. die Integrität der Staaten nicht verletzt haben. Es ist eine völlig neue Situation entstanden, indem wir jetzt in die Integrität von Staaten eingreifen. Und zwar deshalb eingreifen, weil wir meinen, daß diese Staaten selbst mit ihren Bürgern nicht richtig umgehen. Es ist völlig unübersichtlich, wo das hinführen soll und es sind zu Recht schon die Fragen aufgeworfen worden, wann marschieren denn nun die europäischen Soldaten, um die es hier geht, meinetwegen in Nordirland ein, wo sie sich nicht einigen können oder wann marschieren sie in der Türkei ein, wo das Problem mit den Kurden besteht. Hier ist eigentlich ein ethnischer Konflikt, der nicht neu ist, wieder aufgebrochen, der m. E. mit Waffengewalt so nicht lösbar ist.

Im zehnten Jahr der Einheit scheint der Prozeß der inneren Angleichung noch immer nicht vollzogen zu sein. Haben sich die Westdeutschen zu sehr von der historischen Kontinuität ihres Deutschtums entfernt oder die Mitteldeutschen?

Das Interessante ist für mich eigentlich, daß die Mitteldeutschen deutscher sind als die Westdeutschen. Für die Mitteldeutschen war aufgrund der Konfrontation mit ihrer Macht, die sie besetzt hielt, der Weg nach Deutschland das Ziel. Das ist für die Westdeutschen zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so gewesen, sondern sie haben, schön von Nato geschützt und im freiheitlichen Westdeutschland zuverlässig angesiedelt, aber einen Weg gesucht, der sie vielfach versuchen ließ, das Deutsche zurückzudrängen, als Deutsche möglichst nicht in Erscheinung zu treten. Hier liegt eine ganz zentrale Spannung, möglicherweise auch eine Wurzel dafür, auch wenn das nach außen ganz anders aussehen mag, daß die PDS nach wie vor diesen Rückhalt hat, viele neue Stimmen gewinnen konnte. Übrigens in West und Ost vergleichsweise viel, weil sie ganz schlicht und einfach gesagt hat, wir haben als Deutsche in diesem Krieg nichts zu suchen. Sie hat das sehr einfach dargestellt, schön. Aber die Kehrseite ist eben in der Tat, daß hier eine erhebliche Spannung liegt. Das ist das eine, und das andere ist ganz einfach, daß die Disziplin der Menschen, die staatliche Disziplin in Mitteldeutschland viel größer war als sie es bei uns gewesen ist. Und daß aus diesem Grunde, dies wäre ein Wunsch von mir, wir etwas davon lernen könnten. Erfüllt sich dieser Wunsch nicht, so dürfte sich wohl in absehbarer Zeit hier die Spannung verschärfen.

Die Bundesrepublik rückt, eher ungewollt, als von ihren maßgeblichen inneren politischen Kräften beabsichtigt, mit der Vereinigung die politischen Kraft- und Wirklinien des Kontinents aus der bisherigen Westlage in seinen früheren Mittelpunkt zurück. Diese Lageverschiebung bedingt mehr Selbstbewußtsein und größere Zielklarheit. Sehen Sie, daß die verantwortlichen politischen Kräfte diese unweigerlich eintretenden Veränderungen als ursächlich deutsche und mitteleuropäische Aufgabe erkennen und wahrnehmen?

Das kann ich beim besten Willen so ohne weiteres nicht beantworten. Also was wir zur Zeit an Führung, an politischer Führung in der Bundesrepublik haben, die ist so stark von der Geschichte abgekoppelt, daß sie gar nicht den Weg dahin finden wird. Das sehe ich also an so vielen Dingen. Schon weil sie diesen Weg zur Geschichte zurück nicht findet, deswegen also auch fernsteht von einer, sagen wir mal, gelebten Disziplin, die manurpreußisch nennen könnte. Man versteht das nur überhaupt nicht mehr im Westen, wie man so etwas kann. Und leider inzwischen auch nicht mehr im Osten.

Die Mittellage und die Größe unseres Landes auf dem Kontinent waren immer auch Gegenstand des Interesses europäischer oder raumfremder Mächtegruppierungen. 50 Jahre nach der Verabschiedung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland sind Klammern geschaffen worden, die die Westbindung ökonomisch und sicherheitspolitisch ermöglichen soll. Halten Sie diese Bindung insbesondere unter dem Gesichtspunkt des wirtschaftlich saturierten europäischen Westens und des in nahezu jeder Hinsicht ruinierten europäischen Ostens für dauerhaft und sinnvoll?

Also ich sage vorneweg, ich komme von Haushofer und habe mich mit Geopolitik intensiv beschäftigt. Die Mittelpunktlage der Deutschen ist für ihre Politik, auch für den politischen Erfolg, in ganz Europa immer eine zentrale Frage gewesen. Es gibt eigentlich eine Grenze durch Deutschland, das ist die Elbe, der eine Teil ist stärker westorientiert, der andere ist immer stärker ostorientiert, das wissen wir also unter uns Deutschen schon. Wir wissen aber, daß die größere, sagen wir mal wirtschaftliche Ergiebigkeit einschließlich des damit verbundenen Wohlstandes des einzelnen Bürgers vom Westen her kam, also von der westlichen Industrie, von der westlichen Wirtschaft, vom westlichen Know how und auch von der westlichen Philosophie. Aus diesem Grunde bin ich der Meinung, daß diese westliche Einbindung wichtig ist und unerläßlich ist für die Zukunft. Ich bemühe mich zur Zeit über eine europäische Hochschule, die wir hier in der Stadt haben, davon einiges über die Filialen, die wir jetzt von Finnland bis Ungarn gerade errichten, auch nach Osteuropa hin zu bringen, weil ich meine, daß man den Menschen damit helfen kann. Man kann das aber nur, wenn man berücksichtigt, daß es dort andere ethnische Grundlagen gibt, mit denen man sich eingehend befassen muß. Da darf nicht diktiert werden, sondern da muß im Austausch miteinander etwas aufgebaut werden, was den Menschen dort etwas bietet.

Frau Dr. Besser, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 
     
     
 
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