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1989: Deutschland einig Vaterland

 
     
 
Sommer 1989 – die meisten von uns waren Augen- und Ohrenzeugen, und doch hätte in jenen heißen Sommerwochen vor zehn Jahren wohl nieman daran geglaubt, ein geschichtliches Ereignis, wie es in solcher Intensität allenfall einmal im Jahrhundert vorkommt, mitzuerleben.

Begonnen hatte der Zusammenbruch des sozialistischen Systems freilich schon früher Dabei wird man darüber streiten können, ob es nur der Reformkommunismus des Michai Gorbatschow war, der dieses Ende eingeläutet hat. Schließlich war die DDR spätesten 1985 pleite, und nur der von Franz Josef Strauß eingefädelte Milliarden
kredit gab ih einige weitere Überlebensjahre.

In den ersten Monaten des Jahres 1989 fingen die Ereignisse an, sich zu überschlagen Am 15. Januar demonstrierten erstmals – natürlich ungenehmigt – in Leipzig run fünfhundert Bürger für Reformen. Es gab dreiundfünfzig Festnahmen. Am 2. Mai entfernt dann Ungarn demonstrativ den Sicherheitszaun, der die Westgrenze nach Österreich ohnehi mehr symbolisch versperrt hatte. Die wenige Tage später abgehaltenen Kommunalwahlen in der DDR, bei denen rund zehn Prozent Gegenstimmen und weitere zehn Prozent Enthaltungen zu verzeichnen waren, wurden für die Herrschenden zum Menetekel. Das amtliche Endergebni von 98,85 Prozent Zustimmung zu den Listen der Nationalen Front konnte nicht stimme – das wurde bald klar. Die brutale Wahlfälschung schlug ins Gegenteil aus. Erneu flammten Proteste auf.

Als dann Anfang Juni die chinesische Regierung den Protest der Studenten, de unzweifelhaft regimekritische Formen angenommen hatte, gewaltsam unterdrücken ließ zeitigte dies abermals Auswirkungen auf die DDR.

Einerseits wurde die langsam auflebende Bürgerbewegung ermutigt, andererseit beherrschte bis in den Spätherbst hinein die Demokraten die Furcht, auch in der DD könne man zu chinesischen Lösungen greifen. Nur wenige Tage nach den Ereignissen auf de Tiananmen-Platz zerschlug die Volkspolizei ein Straßenmusikfestival in Leipzig. Ei erstes Ventil findet die Bürgerbewegung im Evangelischen Kirchentag der Sächsische Landeskirche im Juli. Kritische Gruppen organisieren einen "Statt-Kirchentag" an dem sich 2500 Menschen beteiligen.

Zur gleichen Zeit beginnt die Fluchtbewegung – erst über Ungarn, später auc über die C?SSR. Mitte August müssen erstmals in Budapest westliche Botschaften wege Überfüllung schließen. Siebenhundert mehr oder minder zufällig in Ungarn weilend DDR-Urlauber nutzen eine Veranstaltung der Paneuropa-Union bei Raab zur Flucht nac Österreich. Ungarisches Rotes Kreuz und Malteser leisten mit ihren beschränkten Mittel in diesen Wochen Bewundernswertes. Aber noch verkündet Honecker: "Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf." Damit hatte sich freilich der alt Kommunist schwer getäuscht. Demonstrationen auf der Leipziger Herbstmesse, die Grenzöffnung Ungarns, die Gründung des alsbald verbotenen "Neuen Forum" un die Massenflucht in die bundesdeutsche Botschaft in Prag prägen den September. Die Wel erlebt bewegt mit, wie Bundesaußenminister Genscher auf den Balkon der deutsche Botschaft tritt und verkündet, daß alle Flüchtlinge ausreisen dürfen. Daß die Flüchtlinge spontan das Deutschlandlied anstimmen, bekommen nur Fernsehzuschauer in westlichen Ausland mit. Deutsche Fernsehsender schalten vorher ab. Der Transport diese Menschen in einer Art Korridorzügen durch Dresden wird erneut zum Mahnzeichen für die Machthaber in Ost-Berlin.

Inzwischen nehmen die Montags-Demonstrationen nach dem seit 1982 in der Leipzige Nicolaikirche abgehaltenen Friedensgebet immer mehr den Charakter einer Massenbewegung an Trotz Drohungen in der "Leipziger Volkszeitung" er-scheint de Le-serbrief eines Kampfgruppenkommandanten, der den Sozialismus notfalls "mi der Waffe in der Hand" schützen will. Die Zahl der Teilnehmer an de Demonstrationen steigt derweil von anfänglich 8000 über 20 000 und 70 000 au 400 000. In dieser aufgeheizten Atmosphäre feiert die DDR ihren vierzigste Geburtstag – ihren letzten, wie sich später zeigen soll. Der prominentest Geburtstagsgast Michail Gorbatschow warnt das Politbüro: "Wenn wir zurückbleiben bestraft uns das Leben sofort", woraus die Medien das verkürz- te Zitat machen "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben." Gleich nach dem Abflug de Moskauers greifen die Sicherheitskräfte rücksichtslos durch.

Am 18. Oktober kommt es dann im Politbüro zum Sturz Honeckers. Egon Krenz – de in der DDR als vormaliger Vorsitzender der Freien Deutschen Jugend als politisc beweglicher gilt – wird 1. Sekretär der SED und später auch Staatsratsvorsitzender Damit läßt sich freilich das aufgebrachte Volk – die Parole "Wir sind da Volk" ertönt bei den Demonstrationen – nicht mehr beruhigen. Die Bürge fordern freie Wahlen, ungeschönte Zahlen über die Wirtschaftslage und visafreie Reisen.

In dieser Situation tritt die Regierung zurück. Politbüromitglied Schabowsk verkündet auf einer Pressekonferenz mehr oder minder versehentlich die Reisefreiheit. Un am Abend dieses historischen 9. November fallen tatsächlich die Mauern. Die völli verunsicherten Grenzpolizisten und Zöllner wagen nicht mehr, sich den heranflutende Massen entgegenzustellen. Die DDR ist frei.

Am 1. Dezember tritt die Volkskammer zu einer denkwürdigen Sitzung zusammen. Aus de im Debattieren völlig ungeübten Parlamentariern bricht heraus, was sich in Jahrzehnte in ihnen aufgestaut hat – schonungslose Abrechnung mit dem System und den bishe Mächtigen. Berühmt geworden das Gestammel des Staatssicherheitsministers Mielke mi seinem nun lächerlich gewordenen "Ich liebe euch doch alle!". Die Kamme streicht den Führungsanspruch der SED aus der Verfassung. Deutlich wird allerdings a diesem Tage: An der Souveränität der DDR will zu diesem Zeitpunkt noch niemand rütteln Das von Bundeskanzler Helmut Kohl zwei Tage zuvor verkündete Zehn-Punkte-Programm zu Überwindung der deutschen Teilung wird von der neuen Regierung unter Hans Modrow rundwe abgelehnt. Doch die Stimmung in der Bevölkerung weist in die entgegengesetzte Richtung Aus "Wir sind das Volk" wird "Wir sind ein Volk". Egon Krenz trit zurück. Kurzfristig übernimmt ein Stellvertreter von der Blockpartei LDPD, Manfre Gerlach, den Vorsitz des Staatsrates, bis nach den Wahlen diese Aufgabe der Vorsitzende der Volkskammer übertragen wird.

Es bildet sich der "Runde Tisch", an dem die Oppositionsgruppen beteilig sind. Eine neue Verfassung soll ausgearbeitet, freie Wahlen ausgeschrieben werden. Die SE trennt sich vom alten Führungspersonal und nennt sich in SED-PDS – später nur noc PDS – um. Gregor Gysi wird Vorsitzender.

Obwohl zu Weihnachten die DDR-Regierung unter Ministerpräsident Modrow Visa-Pflich und Zwangsumtausch für Bundesbürger aufhebt, steht jetzt wie in den kommenden Monate die Wiedervereinigung noch nicht auf deren politischer Agenda. Allenfalls eine deutsch Konföderation ist für die bisherige Politikerschicht der DDR vorstellbar. Das Volk abe ist schon weiter und ruft "Nieder mit der SED!" und "Deutschland eini Vaterland". Kanzler Kohl gelingt es, von Gorbatschow die Zusicherung zu erlangen daß sich die Sowjet-union einer deutschen Einheit nicht entgegenstellen werde "Zwei-plus-vier-Konferenzen" zwischen den beiden deutschen Staaten und de vier Siegermächten werden vereinbart. Aus den auf den 18. März vorgezogene Wahlen zur Volkskammer geht die CDU als stärkste Partei hervor. Die von ih geführte Koalitionsregie-rung (CDU, SPD, DSU und FDP) unter dem neue CDU-Vorsitzenden Lothar de Maizière setzt sich den Beitritt zum Grundgesetz nach de damaligen Artikel 23 zum Ziel.

Auf dem Wege zur Einheit vereinbaren die beiden Staaten in Deutschland zum 1. Juli die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Die D-Mark wird Zahlungsmittel in der DDR. Die Soziale Marktwirtschaft wird eingeführt und das Sozialversicherungssystem an das de Bundesrepublik angepaßt. Die Grenzabfertigung wird eingestellt. Die Paßpflicht fäll weg. Drei Wochen später beschließt die Volkskammer, die historischen Länder Sachsen Thüringen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg wiederherzustellen. D deren Landtage erst Mitte November gewählt werden, werden bis zur Bildung de Landesregierungen Beauftragte bestellt, die nach dem Ende der DDR am 2. Oktober die Länder verwalten – eine ganz eigentümliche, nirgends geregelte staatsrechtlich Konstruktion.

Nachdem die Volkskammer nur mit Mühe davor bewahrt werden kann, den sofortige Beitritt zum Grundgesetz zu beschließen (Antragsteller war die DSU), wird de Einigungsvertrag am 31. August 1990 unterzeichnet. Der Beitritt soll am 3. Oktober wirksa werden. Die Voraussetzungen für die unbeschränkte Souveränität des einigen Deutschlan wir am 12. September mit dem Zwei-plus-vier-Vertrag geschaffen, der in Moska unterzeichnet wird. Am 3. Oktober feiern dann die Deutschen erstmals den neuen "Ta der deutschen Einheit" – was das Kuriosum mit sich bringt, daß die westliche Bundesländer wohl das einzige Gebiet der Welt gewesen sein dürften, in dem die Bürge zweimal im Jahr sich eines Nationalfeiertages erfreuen können.

Dieser Abschluß darf nicht den Blick dafür trüben, daß der Herbst 1989 auch fas allen übrigen Ländern Mittel-Osteuropas die Freiheit gebracht hat. Was mit de "gezähmten Revolution" des Runden Tisches in Polen begann, setzte sich in Ungarn, der C?SSR und Bulgarien fort. Einzig Rumänien blieb es vorbehalten, daß die Freiheit nur in blutigen Kämpfen errungen werden konnte. Diese Länder konnten ihr staatliche Einheit bewahren, während Jugoslawien in den Folgejahren in blutigen Kriege auseinanderfiel. Schwere Auseinandersetzungen haben auch die Entlassung Albaniens in die Freiheit begleitet, aber hier darf nicht vergessen werden, daß dieses Land auch in sozialistischer Zeit einen Sonderweg gegangen war.

Die baltischen Staaten folgten nach dem Zerfall der Sowjetunion 1992 in die Unabhängigkeit. Das Riesenreich der Sowjetunion aber ist in eine buntscheckige politisch Landkarte zerfallen. Wie denn überhaupt die Kartographen in diesem Jahrzehnt viel Arbei hatten. Sie haben lernen müssen: Politische Karten werden nicht für die Ewigkei gezeichnet. Wenn sie nicht mit Blut neu gezeichnet werden, darf man von Glück sprechen.

Der Schriftsteller Erich Loest läßt seinen Stasi-Kommandanten sagen, man sei auf die Konterrevolution, aber nicht auf die Macht von Kerzen und Gebeten eingerichtet gewesen. I der Tat – im Abstand von zehn Jahren läßt sich feststellen: An der deutsche Einheit haben beide ein gerüttelt Maß Anteil gehabt. Gott hat sichtbar die Geschicht gelenkt
 
     
     
 
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