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Chiracs Sprung nach Algier

 
     
 
Dieser Tage hat Jacques Chirac Algerien besucht. Das war der erste Staatsbesuch eines französischen Präsidenten in der ehemaligen französischen Kolonie seit dem Erlangen ihrer Unabhängigkeit nach einem achtjährigen blutigen Krieg im Jahre 1962. Frankreich ist der größte Lieferant von Waren, Dienstleistungen und Industriegütern der algerischen Wirtschaft, rangiert aber als Importe
ur algerischer Waren hinter den USA. Algerien, dessen Außenhandelseinnahmen zu 95 Prozent durch den Erdgasexport eingespielt werden, wird immer mehr von den Verei- nigten Staaten abhängig.

In diesem Zusammenhang ist das Werben Chiracs um eine "außergewöhnliche Partnerschaft" zwischen Frankreich und Algerien sicherlich durch den amerikanischen Willen bedingt, immer tiefer die Präsenz der USA im Mittelmeer zu behaupten. Dem Vernehmen nach könnte Washington eine oder mehrere Militärbasen in Algerien aufbauen. Für Chirac, der eine größere politische Rolle Frankreichs in den arabischen Ländern derzeit erzwingen zu wollen scheint, war es also unentbehrlich, diese Reise zu machen und der algerischen Polizei zuzusichern, daß nach 40 Jahren Streit zwischen Algerien und dem ehemaligen Mutterland die Zeit der Versöhnung endlich gekommen sei. Die erste Streitsache zwischen den beiden Ländern ist die der Zuwanderung. Die Algerier werden von einer Arbeitslosigkeitsrate um 25 Prozent und einer desolaten wirtschaftlichen Lage geplagt, so daß der einzige Wunsch der Jugend darin besteht, nach Frankreich auszuwandern und eine Abschaffung der von den französischen Staatsbehörden auferlegten Visumpflicht zu verlangen.

Da der Lebensstandard in Paris zudem fünfzehnfach höher als in Algier ist, ist es nicht erstaunlich, daß viele Algerier dem französischen Staatschef einen triumphalen Empfang bereitet, zugleich aber die Abschaffung der Visumpflicht stürmisch gefordert haben. Davon war vor der Reise Chiracs die Rede; vor dem algerischen Parlament und den Studenten einer in Oran (der zweitgrößten Stadt des Landes) gelegenen Universität wollte sich der französische Staatschef dazu allerdings nicht näher äußern.

Die zweite Streitsache zwischen Algerien und Frankreich ist diejenige der sogenannten "Harkis", das heißt der Militärgehilfen, die mit den Truppen des Mutterlands während des Unabhängigkeitskriegs gekämpft haben und 1962 zum Teil nach Frankreich zu fliehen vermochten. Die Massaker an Harkis durch die algerische nationale Befreiungsfront (FLN) und das Tolerieren dieser Massaker von de Gaulle ist für die Franzosen eine offene Wunde. Für die Algerier und besonders für die offiziellen Kreise sind die Harkis einfach Verräter, die das Recht nicht haben, algerischen Boden wieder zu betreten.

In Paris geht man also davon aus, daß noch mehrere Jahre notwendig sein werden, um diesen dornenreichen Tatbestand zu bereinigen. Auf jeden Fall ist der gute Wille Chiracs unbestreitbar, jenseits der Leidenschaften eine echte Versöhnung zwischen Paris und Algier herbeizuführen. Abgesehen von einigen französischen Sozialisten hat die politische Klasse in Paris mit Genugtuung die Ergebnisse der Reise des Staatschefs zur Kenntnis genommen. Außer dem eigenen Problem der Beziehungen zwischen Paris und Algier schätzen die Abgeordneten der Regierungspartei "Union pour la majorité présidentielle", daß durch seine Reise und seine Reden jenseits des Mittelmeers Chirac als der echte Erbe de Gaulles aufgetreten ist. Wie er mit Gerhard Schröder Europa "neu gründen" will, will Chirac mit dem algerischen Staatschef Abdelaziz Bouteflika das Zweiergespann Paris-Algier neu gründen.

Insofern bleibt der französische Präsident der politischen Linie der Fünften Republik treu, die nie zwischen einer eurozentrischen Diplomatie und dem Werben um die dritte Welt und die Blockfreien ihre Wahl zu treffen vermocht hat. Unter solchen Umständen ist es erklärbar, daß sogar kommunistische Führer an der Seine die Reise Chiracs begrüßt haben. Als Zeichen dafür, daß Paris in Afrika eine eigenständigere Rolle gegenüber Washington einnehmen könnte.
 
     
     
 
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