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Am 17. Juni 1953 rollte mir mittags in Dessau mitten in der Stadt eine russische Panzerkolonne entgegen. Etwa zwanzig T 34 rasselten klirrend an mir vorbei. Die dicken stählernen Fahrzeugketten machten ohne Gummischutz auf dem Kopfsteinpflaster einen höllischen Lärm. Aus den offenen Luken der Panzertürme ragten die Kommandanten
heraus, mit Ledermützen, darunter regungslose, fast versteinerte Gesichter. Die Panzer fuhren nach Dessau-Nord ins Industriegebiet, dort befand sich die Dessauer Waggonfabrik.

Ich war damals Lehrer an der Grundschule VIII in Dessau-Süd, gerade auf dem Heimweg und bis zu diesem Augenblick noch völlig ahnungslos, weil mir bis dahin weder die Demonstrationen der Ost-Berliner Bauarbeiter zu Ohren gekommen waren noch die Arbeitsniederlegungen im Chemie-Dreieck Bitterfeld-Wolfen, Halle sowie Merseburg, denn Radio hörte ich damals gewöhnlich erst abends. Ich dachte deshalb, die Rote Armee sei mit ihren Panzern auf einer Übungsfahrt ins Manöver. Erst als ich abends das Radio anschaltete, um Nachrichten zu hören, erfuhr ich, was in Ost-Berlin und anderswo los war. Jetzt wurde mir natürlich bewußt, warum die T 34-Panzer in Richtung Waggonfabrik gefahren waren, nämlich um das Werksgelände abzuriegeln und die Belegschaft einzuschüchtern.

Dort wurde dann zwar trotzdem die Arbeit niedergelegt, aber die streikenden Arbeiter konnten nicht mehr zum Rathaus marschieren oder das Gebäude der SED-Bezirksleitung besetzen. Es fiel nicht ein Schuß, in Dessau blieb es äußerlich ruhig, es herrschte "Panzer-Kommunismus".

Die Rote Armee hatte in der DDR etwa 600.000 Mann stationiert, also deutlich mehr als in jedem anderen besetzten Land Osteuropas. Tausende von Panzern lagen erdrückend wie Blei über dem Land, bereit zum Einmarsch nach Westdeutschland, aber eben auch zum Einsatz gegen die DDR-Bevölkerung. Das war nicht zu ändern, daran gab es nichts zu rütteln. Dessen waren sich die meisten Mitteldeutschen stets voll und ganz bewußt. Jeder hatte im Grunde genommen immer nur drei Möglichkeiten: entweder engagieren, wenn man Sozialist oder Kommunist sein wollte, oder arrangieren, das heißt anpassen an das politische System, immer in der Hoffnung auf Wiedervereinigung, oder drittens "in den Westen abhauen".

Zwei Millionen waren in der SED, drei Millionen waren bereits in den Westen gegangen - viele als Wehrmachtsangehörige direkt nach Westdeutschland entlassen, und 200.000 flüchteten seit 1945 pro Jahr. Die große Mehrheit allerdings, nämlich etwa 12 Millionen Menschen, blieb im Land und mußte sich anpassen, als Christen, Liberale, Konservative oder Parteilose. Viele blieben in ihrer Grundeinstellung schlichtweg deutsch, altdeutsch gar oder preußisch.

Ich selbst war mit einem Freund auch schon einmal "in den Westen abgehauen", 1951, nach Westberlin, doch im Auffanglager Nalepastraße überredete uns der zuständige Beamte, wieder zurückzugehen - er hatte uns davon überzeugt, daß Mitteldeutschland auf Dauer endgültig an die Russen verlorengeht, wenn zu viele das Land verlassen, ohne unmittelbar persönlich bedroht zu sein.

Doch damals liefen auch Gerüchte um, Deutschland würde vierzig Jahre geteilt bleiben. Allein dies war mir unerträglich. Die Aussicht, das ganze Leben in der DDR "eingesperrt" zu bleiben, nie Italien, Spanien sehen zu können, das erschien mir unannehmbar. Deshalb wollte ich erneut flüchten. Doch als ich darüber mit meiner Mutter sprach, sagte die beste Mutter der Welt: "Ja, aber Junge, du kannst mich doch hier nicht allein zurücklassen mit deinen zwei kleinen Schwester!"

Oder meine Großeltern, an denen ich sehr hing, Marie und Wilhelm Weser aus Belgern an der Elbe, sagten: "Ja, aber Werner, wenn du in den Westen gehst, dann sehen wir dich ja nie wieder!"

Danach verzichtete ich zum zweiten Mal auf die Flucht, 1952 wurde ich SED-Mitglied! In diesem Zwiespalt der Gefühle zwischen familiärer Bindung, Liebe zur Heimat und Deutschland auf der einen Seite und der russischen Besatzungszone andererseits befanden sich alle Menschen zwischen Thüringer Wald und Ostsee, selbst viele SED-Mitglieder. Ohne freie Wahlen war die DDR eben kein richtiger Staat, weil nie vom Vertrauen und von der Zustimmung seiner Bevölkerung mehrheitlich getragen.

Dennoch, am 17. Juni gingen in Sachsen-Anhalt 130.000 Arbeiter und Angestellte auf die Straße. Das Zentrum war das Chemie-Dreieck Bitterfeld-Wolfen, Halle und Merseburg mit den Buna- und Leuna-Werken. Sie legten die Arbeit nieder, streikten und demonstrierten zunächst gegen höhere Arbeits- normen bei gleichem Lohn. Es ging um zehn Prozent mehr Leistung, was bei gleichem Lohn einer Senkung der Stundenlöhne gleichkam. Darüber waren sie erbittert, sie fühlten sich dadurch vom Arbeiter- und Bauernstaat noch mehr ausgepreßt, noch höher ausgebeutet als westdeutsche Arbeiter, die von privaten Unternehmern besser bezahlt wurden. Das war der Kern ihres Protestes. Als der Arbeiter- und Bauernstaat sowjetische Panzer auffahren ließ, wurde daraus Aufruhr, Aufstand! In Berlin bewarfen die Demonstranten T 34 mit Steinen, in Halle-Merseburg sangen sie das Deutschlandlied von der ersten bis zur dritten Strophe. In den Leuna-Werken verprügelten sie Parteifunktionäre, aber auch Betriebsräte; denn die hätten eigentlich mitdemonstrieren müssen. In Halle skandierte die aufgebrachte Menge: "Der Spitzbart muß weg!" Zuerst schossen Rotarmisten wie Volkspolizei über die Köpfe der Massen hinweg, dann in die Massen hinein. In Sachsen-Anhalt gab es acht Tote, in Ostberlin weit über hundert, 8.000 wurden verhaftet, die meisten allerdings nur für kurze Zeit.

Der ursprünglich rein ökonomische Protest war folglich noch am selben Tage höchst brisant politisch eskaliert mit dem Ruf nach nationaler Einheit!

In der Bundesrepublik war über den Marshallplan und mit dem Beginn des Wirtschaftswunders der Lebensstandard längst bedeutend höher als in der DDR, wo allerdings gewaltige Reparationen für die Sowjetunion den Lebensstandard drückten, doch dieser Sachverhalt störte die Streikenden nicht im geringsten. Denn wer, wie Walter Ulbricht, den Sozialismus aufbauen wollte, mit überlegener Produktivität und höherem Lebensstandard als im Kapitalismus, der muß natürlich dreizehn Jahre nach dem Krieg auch höhere Reallöhne zahlen, sonst wirkt er unglaubwürdig. Und das war Walter Ulbricht. Er konnte Moskau eben nichts abhandeln, deshalb war er für die Bevölkerung der Handlanger Moskaus, der in Form enormer Reparationen den Tribut für die Sowjetunion eintreiben mußte, wie vergleichsweise der gallische Adel für Rom.

Die ursächliche Analyse des 17. Juni ist deshalb keineswegs einfach, sondern eher vielschichtig und kompliziert. Alle deutschen Parteien beurteilen und schildern diesen Tag höchst unterschiedlich, um nicht zu sagen gegensätzlich, selbst wenn sie den 17. Juni 1953 nicht unmittelbar erlebt hatten.

Die SED-Führung erklärte den unerwarteten Aufstand, wie nicht anders zu erwarten, als faschistischen Putschversuch.

Bert Brecht, westdeutscher Kommunist aus Augsburg, seinerzeit DDR-Kulturminister, erklärte sich trotz des 17. Juni der SED-Führung verbunden; denn schließlich "macht jeder mal einen Fehler", meinte er. Aber das reichte dann bereits aus, um ihn schrittweise aufs Abstellgleis zu schieben. Denn wer nicht glaubt, daß "die Partei immer recht hat", galt in Ostberlin auch damals schon als nicht linientreu.

Thomas Mann, ein typisch deutscher Linker, sonst hätte er ja nie den Nobelpreis bekommen, schrieb am 19. Juni in sein Tagebuch: "Arbeiter-Revolte in Ostberlin, gewiß provoziert, wenn auch nicht ohne Spontaneität, von russischen Truppen niedergehalten, mit Panzern und Schüssen in die Luft." Nun gut, immerhin ist Mann insofern linientreuer als Brecht, weil er der SED keine Fehler unterstellt, frei nach dem Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Aber auch bei ihm schießen die Russen bloß in die Luft, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Und niemand hat je den linken Nobelpreisträger gefragt, wo denn dann nach seiner Version die fast 150 Toten des 17. Juni herkommen!

Kurt Barthel wiederum, kurz KuBa genannt, schämt sich für die Bauarbeiter der Stalinallee. Flugs hatte er seinerzeit ein Flugblatt herausgebracht "Wie ich mich schäme!". Darin heißt es "... sonnengebräunte Gesichter unter weiß- leinenen Mützen, muskulöse Arme ... nicht schlecht habt ihr euch in der Republik ernährt."

Westdeutsche Intellektuelle haben übrigens den 17. Juni kaum beschrieben, weder Günter Grass noch Heinrich Böll. Ich vermute mal, gleichfalls wegen "Daß nicht sein kann, was nicht sein darf". Denn im Sozialismus streiken eben deutsche Arbeiter nicht, und die Rote Armee schießt auch nicht auf Arbeiter.

Der einzige jedenfalls, der den streikenden Arbeitern half, indem er diese zur Besonnenheit aufrief, das war Konrad Adenauer, der rheinfränkische Katholik, der Kölner Preuße - denn das war er ja auch. Er mahnte die weit überwiegend evangelischen Demonstranten, "sich nicht zu unbedachten Handlungen hinreißen zu lassen". Er wußte wohl sehr genau, daß Deutschlands Wiedervereinigung erst sehr viel später möglich sein würde, nämlich erst dann, wenn Moskaus Kommunisten mit ihrem marxistischen Wirtschaftslatein Pleite gemacht hatten, vorher nicht.

Den 17. Juni zum nationalen Feiertag zu machen, so wie das Konrad Adenauer veranlaßte, eben zur Erinnerung an die Märtyrer des Arbeiteraufstandes, das war absolut richtig, weil das Ausmaß und die Ziele der Demonstrationen in der Tat eine historische Dimension hatten.

Bei Thomas Mann hingegen las sich das völlig anders. Der notierte am 26. Juni 1953 "heuchlerische Trauerkundgebungen in Adenauer-Deutschland". Der Nobelpreisträger meinte damals, die Menschen im russischen Sektor seien am 17. Juni "von westlichen Provokateuren herausgelockt, ja herausgefordert worden. Das ganze lausbübisch bis zum Exzeß."

Ausgangspunkt Stalinallee: Am Vortag des Aufstands, am 16. Juni 1953, legten Bauarbeiter die Arbeit nieder, um gegen die Normenerhöhung zu protestieren. Immer mehr Menschen schlossen sich ihnen an, bald wurde der Ruf nach Freiheit und Einheit lauter. Foto aus: Guido Knopp, Der Aufstand
 
     
     
 
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