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Das Jahrhundert der Lager

 
     
 
Im Propyläen Verlag soll im Herbst die Übersetzung des Buches "Le Siécle des Camps" des bekannten französischen Kommunismusforschers Pierre Rigoulot erscheinen, das auf über 800 Seiten die Realität der Konzentrationslager des XX. Jahrhunderts von Kuba bis China zu beschreiben versucht. Das Buch wurde in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Joel Kotek, der an der Freien Universität von Brüssel lehrt, geschrieben. Unser Frankreichkorrespondent Francisco Lozaga sprach mit dem Autor.

Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, "Das Jahrhundert der Lager" mit Joel Kotek zu schreiben?

Wie Sie wissen, habe ich mir Spezialkenntnisse über die Struktur kommunistischer Konzentrationslager erworben. Umgekehrt ist Prof. Dr. Joel Kotek Spezialist für NS-Lager. Insofern haben wir gedacht, es wäre sinnvoll, ein Bild der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zu entwerfen, das dadurch gekennzeichnet war, politische Gegner in Lagern zu sperren. Es gab Lager sowohl in totalitären Staaten als auch in Diktat
uren. Es gab auch welche in Demokratien, wie die inhaftierten Japaner in den USA. Oder in Frankreich, wo die Regierung Daladier 1939 Kommunisten einsperren ließ. Ich glaube, daß unsere Darstellung ohne diese Verweise unvollständig gewesen wäre und deswegen zum Bild des Jahrhunderts gehörten.

Wie kann man sich erklären, weswegen das zwanzigste Jahrhundert das Jahrhundert der Lager gewesen ist?

Zunächst ist das von uns beschriebene Phänomen eine Tatsache. Die Lager, auch als Begriff Konzentrationslager, tauchen in Kuba schon 1896 auf, als Spanier Aufständische zu isolieren versuchten. Dann 1901/02 in Südafrika, wo die Briten die aufrührerischen Buren einsperren ließen. In fast allen Kolonialkriegen wurden Lager errichtet. Meines Erachtens kann das Phänomen des Lagers durch unzulässige Verallgemeinerungen der Idee von der "Nation" erklärt werden. Es handelt sich um eine Entwicklung eines Grundgedankens aus der französischen Revolution, wonach jeder Ausländer oder jede Fremde als Feind angesehen wurde. In der Konsequenz dieses Gedankens bedeutete dies, daß selbst Stammbürger, die die Meinung der Behörden nicht teilen, störende Elemente des Systems sind, die als Verdächtige angesehen und interniert werden müssen.

Gibt es denn graduelle Verschiedenheiten des Terrors innerhalb der Struktur der Konzentrationslager?

Man kennt sicherlich eine Steigerung der Scheußlichkeit. In den Demokratien handelt es sich mitunter nur darum, unliebsame Gefangene zu isolieren. In den totalitären Staaten will man nicht nur isolieren, sondern auch bestrafen oder umerziehen. In dieser Hinsicht ist das Ziel des Internierens in Konzentrationslagern dasselbe bei den Nazis wie bei den Kommunisten. Bei den Nazis gab es zudem Ausrottungslager – sie sind aber fast "nur" eine andere Art von Konzentrationslager.

Sie vergleichen und unterscheiden zugleich die Lager der Nazis und diejenigen der Kommunisten. Warum?

Sowohl bei den Nazis als auch bei den Kommunisten sind gleiche Grundgedanken zu bemerken. Die Inhaftierten sollen isoliert und durch Arbeit umerzogen werden. Ich habe in Frankfurt/Main eine ehemalige KZ-Insassin getroffen, die das Sowjet-Lager inKaraganda von 1939–1940 und von Ravensbrück 1940 überlebt hat. Sie war die Ehefrau eines deutschen Kommunistenführers, der in Stalins Lagern verschwand, und wurde später mit sechshundert Kommunisten an Deutschland ausgeliefert. Nach ihrer Aussage war, wenigstens bis 1942, Ravensbrück nicht schlimmer als Karaganda. Bei den Nazis wie bei den Kommunisten haben Hinrichtungen stattgefunden und die Konzentrationslager sind auch unmittelbar nach den jeweiligen Machtübernahmen errichtet worden, ohne daß hier zunächst Unterschiede auszumachen gewesen wären.

Glauben Sie, daß diese Unterschiede im Vergleich vom Wesen der Ideologien her erklärt werden können?

Bei der Sowjetunion handelte es sich vordergründig insbesondere darum, die sozialen Kategorien als Grundmuster ihrer Ideologie zu brechen. Bei den Nationalsozialisten ist der Zweck des Totalitarismus unter anderem vermutlich ein biologischer gewesen. Man könnte sagen, daß für einen Kommunisten ein umerzogener Kulak zu einem Mitgefährten werden konnte. Umgekehrt schien es für einen überzeugten Nationalsozialisten ausgeschlossen, daß ein Jude jemals Mitglied der SS werden dürfte. Durch diese Eigentümlichkeit der biologischen Doktrin der Nazis könnten die Ausrottungslager während des Zweiten Weltkriegs erklärt werden. Beim Gulag war das Sterben der Häftlinge nicht ausgeschlossen, aber eben nicht gleichermaßen programmiert wie bei den sechs Ausrottungslagern der Nazis. Bei ihren politischen Gefangenen waren sowohl Kommunisten wie Nazis stolz darauf, wenn sie einen Häftling umerzogen hatten, der nunmehr bereit war, die Linie der jeweiligen Partei mitzutragen.

Können Sie die Entwicklung des Systems der Konzentrationslager nach dem Zweiten Weltkrieg skizzieren?

Schätzungsweise gab es in der Sowjetunion zum Zeitpunkt des Todes von Stalin noch 2 500 000 Häftlinge in den Konzentrationslagern. Dazu müssen 2 000 000 Abgeschobene mitgerechnet werden, die Schwerstarbeit zu leisten hatten, sie sind den KZ-Häftlingen vergleichbar gewesen. Nach dem Krieg saßen auch in den sowjetischen Lagern deutsche, italienische oder japanische Kriegsgefangene mit grausamsten Haftbedingungen, die von den Wächtern als "potentielle" Gegner betrachtet wurden.

Das sowjetische KZ-System wurde nach 1945 über den gesamten Einflußbereich ausgedehnt, was hier in Paris kaum bekannt ist.

Das Wissen darüber ist in Frankreich nur sehr gering. Die Lager wurden aber in den 60er Jahren geschlossen.

Wie ist das Echo auf Ihr Buch?

Ich würde sagen, wir haben ein "respektables" Echo erhalten. Bedauerlich ist, daß führende linke Zeitungen wie "Le Monde"oder "Libération" das Erscheinen dieses Buchs nicht erwähnt haben. Jedenfalls haben wir keinen Skandal wie seinerzeit "Das Schwarzbuch des Kommunismus" verursacht. Aber auf internationaler Ebene finden wir durchaus ein größeres Echo. "Le Siècle des Camps" wird in Deutsch, Englisch, Italienisch, Spanisch und sogar in Rumänisch übersetzt. Wir haben ein Nachschlagebuch schreiben wollen, das haben wir erreicht und sind mit dem Echo zufrieden. Zum Schluß würde ich sagen, Prof. Dr. Korek und ich wollten etwas Ordnung in diesen Begriff vom "Lager" bringen und hoffen, das geschafft zu haben, obwohl wir allein die zivilen Lager beschrieben haben. Ein anderes Buch über die Militärlager wäre noch zu schreiben.

Herr Rigoulot, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

Gehörte zu den frühen Kritikern realkommunistischer Länder: Pierre Rigoulot (re.) mit Joel Kotek. Rigoulot, Jahrgang 1944, befaßte sich nach dem Studium der Philosophie insbesondere mit neuer Sichtung historischer Prozesse. Er war Mitarbeiter an Jean-Paul Sartres Zeitschrift "Les Temps Modernes" und wechselte 1984 zum renommierten "Institut d’Histoire Sociale" über. Er besitzt Spezialkenntnisse über die Volksrepublik Korea und arbeitete am "Schwarzbuch des Kommunismus" mit. Veröffentlichungen: "Die Franzosen im Gulag", "Die Tragödie der Elsässer während des II. Weltkriegs", "Das Aquarium von Pyong Yang"
 
     
     
 
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