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Neuwahl oder Neubeginn?

 
     
 
Einen Tag vor dem 15. Jahrestag der Deutschen Einheit, am 2. Oktober, wird sich in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden der Ausgang der Bundestagsneuwahl entscheiden. Erst die durch den Tod der NPD-Direktkandidatin Kerstin Lorenz und eine Wahlgesetzeslücke (das Fehlen einer Nachrückerlösung) notwendig gewordene Nachwahl im Wahlkreis Dresden 1, der sich von Semperoper und Frauenkirche über südliche Elbe und Univiertel bis in die Plattenbauten des Stadtteils Prohlis erstreckt, wird das vorläufige Ergebnis vom 18. September zu einem amtlichen machen. So wird ausgerechnet jene Stadt, die in den Tagen des 13. bis 15. Februar 1945 durch drei britisch-amerikanische Luftangriffe eingeäschert und somit zu einem Mahnmal gegen den Bombenterror
an Zivilbevölkerungen wurde, wieder zu einer Schicksalsstadt.

Denn längst steht, unabhängig vom Ergebnis des Urnengangs, fest: Bei dieser Wahl geht es erst in zweiter Linie um die Frage, wer die Bundesrepublik regiert, sondern vorrangig darum, welche Zukunft sie hat - die eines prosperierenden Wohlfahrtsstaats oder jene eines ökonomischen Dauerpatienten. Dies ist Deutschlands Agenda:

• Die Massenarbeitslosigkeit muß abgebaut werden. Die traditionelle Tarifautonomie, ausgerichtet auf dauerhafte Lohnzuwächse und das Vermeiden sogenannter Nullrunden, ist überholt. Öffnungsklauseln zugunsten betrieblicher Bündnisse für Arbeit bewegen sich zwischen seltener Freiwilligkeit und angedrohter gesetzlicher Verankerung. Zu entscheiden ist, ob Mehrarbeit, temporäre Lohnabstriche und gelockerter Kündigungsschutz im Sinne globaler Wettbewerbsfähigkeit ohne staatlichen Dirigismus durchsetzbar sind - auf diese Entscheidung warten fünf Millionen Arbeitslose in einer Marktwirtschaft, die sich immer noch sozial nennt, obwohl ihr an jedem Werktag zwischen 1000 und 1200 sozialversicherungspflichtige Jobs verloren gehen. Und: Was wird aus den staatlich geförderten 237000 "Ich-AGs", mit denen Arbeitslose in einer Selbständigkeit geparkt wurden, die in den meisten Fällen ohne dauerhafte Perspektive ist?

• Das Rentensystem, in seinem Kern bis heute von preußischer und bismarckscher Prägung, steht als Synonym des Richtungsstreits "schützender Staat oder Eigenverantwortung?". Kann ein abgewirtschaftetes Gemeinwesen es sich länger erlauben, seinen tragenden Bürgern die Altersabsicherung abzunehmen - oder muß es nicht, um sein Überleben zu sichern, auf private Vorsorge setzen? Der Generationenvertrag ist obsolet: Seit Ende der 60er Jahre sinkt die Geburtenrate und steigt die Lebenserwartung. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer hat sich von 1960 bis heute um zehn Jahre verlängert. Muß das Pensions- und Renteneintrittsalter angehoben werden?

• Die gesetzliche Krankenversicherung schwankt chronisch zwischen Kostendämpfung und kurzfristigen Überschüssen. Auch wenn immer weniger Berufstätige aus Angst vor Jobverlust sich krank melden, bleibt offen, ob die Krankenversicherung nicht besser von den Arbeitskosten abgekoppelt werden soll - und ob Beamte und Selbständige in das Modell einer dann losgelösten Gesundheitsprämie mit einzahlen sollen.

• Der Bund hat 800 Milliarden Euro Schulden aufgehäuft. Sein Zinsaufwand ist fast doppelt so hoch wie seine Investitionsausgaben - ein Fünftel seiner Steuereinnahmen fließen in den Zinsdienst. Werden die öffentlichen Haushalte nicht endlich saniert, wird sich ihre Verschuldung in 25 Jahren verdreifachen. Bereits zum vierten Mal in Folge wird Deutschland in diesem Jahr die EU-Haushaltsdefizitgrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts überschreiten. Bei Ländern und Kommunen ist der Bedarf an Konsolidierung so groß, daß das Berufsbeamtentum zur Disposition steht.

• Wie egoistisch darf ein Staat sein, der seine Volkswirtschaft über Steuern lenkt? Die jüngste Debatte um eine von der Union geforderte Mehrwertsteuererhöhung hat zu Recht auf die Fragilität des Konsums verwiesen. Der große Ansatz, wie die Wechselwirkung zwischen Lohnpolitik, Binnenkonjunktur und Sanierung der öffentlichen Finanzen dauerhaft neu justiert werden könnte, ist ausgeblieben. Die Parteien, in lähmender Furcht vor dem Dominoeffekt, verschwiegen zudem ihre Konzepte zum Langzeit-Subventionsabbau: die Rücksichtnahme auf Wählerklientel, verfügte Denkverbote, von denen sich die Nachbarländer längst befreiten.

• Verzagt - und deshalb vertagt: die Föderalismusreform. Deutschland leidet darunter, daß Bundestag und Länderkammer einander blockieren. Zwei Drittel aller Berliner Gesetze müssen qua Verfassung vom Bundesrat genehmigt werden - immer öfter scheitern sie an Länderegoismen. 16 kleine Staaten in einem Bund sind im internationalen Wettkampf um Standortvorteile zuviel - allein: Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis ist ausgeblieben. Immer öfter wird das Bundesverfassungsgericht angerufen, wenn es im Rahmen des Finanzausgleichs darum geht, in welchem Umfang starke Länder kleinen helfen sollen - die Folge ist Stillstand statt Wettbewerb.

• In der Bildungspolitik - auch sie streitig zwischen dem Bundesanspruch etwa beim Hochschulzugang und der Kultushoheit der Länder - sank die Qualität der Abschlüsse mit Lichtgeschwindigkeit, weil zentrale Standards fehlten - sie wurden einer schon in den 70er Jahren einsetzenden "Kuschelpädagogik" geopfert. Sie setzte auf Fördern und vergaß das Fordern. Leistung wurde in den Klassenzimmern zum Unwort. Von den derzeit 750000 Lehrern wird in den kommenden sieben Jahren die Hälfte in den Ruhestand gehen - an den Hochschulen aber werden nur halb so viele Lehrer ausgebildet, wie die Schulen bräuchten, um Anschluß im Pisa-Ranking zu finden. So bleibt die Republik Brachland im Welt-Vergleich.

• In der Außen- und Sicherheitspolitik schließlich steht Deutschland mitten in einem Selbstfindungsprozeß, den es sich anhaltend nicht wird leisten können. Mittelmacht, mehr - oder weniger? Ein Platz im UN-Sicherheitsrat bei weiterhin gepflegter verfassungsrechtlich diktierter Zurückhaltung bei der Bewältigung internationaler Konflikte? Ungeklärt ist, ob eine Berufsarmee den Wehrdienst ersetzen soll und eine personell und technisch ausgeblutete Bundeswehr aktuellen weltweiten Herausforderungen überhaupt dauerhaft gewachsen ist. Deutschlands Rolle in der Welt hängt davon ab, wann endlich ein außen- und sicherheitspolitisches Gesamtkonzept vorgelegt wird - das nicht in Sicht ist.

Schicksalsfragen eines Landes, in dem Aufbruch zuletzt Larmoyanz wich. Neuwahl oder Neubeginn?
 
     
     
 
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