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Deine jungen Töchter verschleppte der gelbe Tatar

 
     
 
Betrübtes Vaterland! Netze deine Wangen; Denkt, Preußen, was mit euch damals vorgegangen!" – Es ist kein Nationalepos, das so beginnt, wie man meinen könnte. Und es bezieht sich auch nicht auf die jüngere oder gar jüngste Geschichte Preußens. Was so klagend beginnt, zeigt in den nächsten Zeilen die Zeit auf, in der das Grausame geschah: "Als man sechzehnhundert sechsundfünfzig zählte, und ein ergrimmter Feind euch empfindlich quälte!" Es ist das Tatarenlied des Pfarrers Johann Molitor aus Groß Rosinsko, 1656 in masurischer Sprache geschrieben, von dem Angerburger Rektor Pisanski ins Deutsche übertragen. Das 41 Strophen lange Lied ist noch in alten ostdeutschen Gesangbüchern zu finden. Aber kennt man es heute noch?

Als kürzlich im Seminar der "Ostdeutschen Familie" im Ostheim in Bad Pyrmont das "Tatarenlied" und seine Geschichte auf dem Programm standen, wußten die meisten Teilnehmer nicht, worum es sich handelte. Als dann Hans-Egon von Skopnik sein Referat hielt, waren alle gefesselt von den Schilderungen über die Tatareneinfälle, die zu den schwärzesten Kapiteln der preußischen Geschichte gehören, aber auch betroffen von der Gültigkeit bezüglich der grausamen Ereignisse der jüngsten Vergangenheit. In seiner Moral zeigt es in fast prophetischer Weise die Klagen unserer Zeit. Es war kaum ein Seminarteilnehmer, der nicht eine Kopie des Liedes in deutscher, aber auch in masurischer Sprache mit nach Haus nahm.

Wenig ist bisher über die Geschichte der Tatareneinfälle in Ostdeutschland geschrieben worden, es sind auch nicht mehr viele Dokumente vorhanden, da 13 Städte und 249 Dörfer, Flecken und Höfe und 37 Kirchen vernichtet wurden. Etwa 23 000 Menschen wurden erschlagen, 34 000 Einwohner verschleppt, mehr als 80 000 starben an Hunger und der eingeschleppten Pest. Ganze Landstriche wurden wüst. Das Land, das aufblühte, weil der 30jährige Krieg so gnädig an ihm vorbeigegangen war, blutete aus. Wie das Tatarenlied besagt:

"Den Enkel traf nunmehr, was in fernen Zeiten die Väter nicht erlebt: Tausend Graumsamkeiten kränkten hier die Unschuld; und bey solchen Plagen beklemmeten die Brust Ohnmacht und Verzagen."

Wie kam es zu diesem Schicksalsschlag für unsere Heimat? Auch nach dem Westfälischen
Frieden hatte die Großmacht Schweden noch nicht die Waffen beiseite gelegt, der jahrzehntelange Kampf um die polnische Krone flammte wieder auf. Der Große Kurfürst, Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Vetter des Schwedenkönigs Carl Gustav, verbündete sich mit ihm gegen den polnischen König, es kam zum Schwedisch-Polnischen Krieg (1655–1660). In einer dreitägigen Schlacht bei Warschau besiegte die schwedisch-brandenburgische Armee das polnische Heer. Doch der Polenkönig Johann Kasimir holte zum Gegenschlag aus, sein durch Litauer und Krimtataren verstärktes Heer schlug die schwedisch-brandenburgischen Truppen bei Prostken, wobei diese mit 7000 Toten und Gefangenen große Verluste erlitten. Mordend und sengend zogen die Tataren durch Masuren und weiter nach Preußen hinein, und was sie erbeuteten, war ihr Kriegslohn.

"So wie ein Adlerschwarm kam in schnellen Heeren ein rauhes Heydenvolk, alles zu verzehren. Unvermuthet sprengten wilder Barbarn Horden auf raschen Pferden an, um hier frey zu morden."

Obgleich sie nur mit Pfeil und Bogen bewaffnet waren und statt eines Säbels einen auf einem Holzgriff befestigten spitzen Knochen, den "Maslack", trugen, waren sie in Geschwindigkeit, Gewandtheit und improvisierten Manövern unschlagbar. Hans-Egon von Skopnik zieht ihre Blutspur nach: Sie drangen sofort von Prostken an das Ostufer des Mauersees vor, legten Angerburg in Schutt und Asche, von hier zogen sie in Richtung Drengfurt und Barten, wo sie jedoch auf eine zur äußersten Verteidigung entschlossene Besatzung des Bartener Schlosses fanden. So verzichteten sie zunächst auf Plünderung und Brandschatzung, dafür verwüsteten sie die umliegenden Dörfer und Höfe. Angerburg und Drengfurt brannten, der abendliche Horizont war blutrot.

"Die angeschürte Glut schlug in hellen Flammen gleich über Haus und Dorf, Kirch und Stadt zusammen. Vieh, Gerät und Silber ward hierbey erbeutet, und durch das ganze Land Furcht und Noth verbreitet."

Besonders schwer litt Lyck, das ausgeplündert und vollkommen zerstört wurde. die Bewohner hatten sich allerdings auf die Burginsel im Lycker See retten können, wo sie von einem Dragonerregiment, das der Oberst von Auer auf eigene Kosten erstellt hatte, erfolgreich verteidigt wurden. Aber nicht nur die Männer bewiesen Mut, das bezeugt der bis in unsere Zeit so genannte "Tatarensee". Eine Horde hatte eine große Schar der männlichen Bewohner des Kreises Lyck gefesselt, sie an die Schwänze ihrer Pferde gebunden und sie zum See geschleift. Als die Tataren dort lagerten, schlichen die Frauen der Gefesselten herbei, taten mit den Feinden lustig und machten sie mit Bärenfang betrunken, daß sie umfielen. Da befreiten die Frauen ihre Männer, und gemeinsam warfen sie die Betrunkenen in das moorige Wasser. Aber bei den meisten Bewohnern war eine Gegenwehr vergebens, die Horden wüteten dann um so schlimmer. Im Kirchspiel Ostrokollen wurden 96 Menschen erschlagen, 1362 wurden gefangen und fortgeschleppt. In Kallinowen wurden von 800 Einwohnern die meisten getötet, der Rest in die Sklaverei geschleppt, so auch der Pfarrer Baranowski, der als Galeerensklave elend auf Kreta verstarb.

"Die Aeltern aber selbst lagen schon in Banden, zur Freyheit war für sie kein Weg vorhanden. Niemand durfte hoffen, sie von Strick und Ketten der harten Dienstbarkeit jemals zu erretten."

Noch grausamer und brutaler – falls noch eine Steigerung möglich war – erwies sich der Tatareneinfall in das Bartner Land im darauf folgenden Jahr. Nachdem die Horden wieder das Schloß Barten nicht stürmen konnten, zogen sie wütend nach Lötzen, das sie wie auch die umliegenden Orte niederbrannten. Der Herr von Gut Stürlack, Freiherr von Schenk zu Tautenburg, wurde auf einem Stein vor seinem Haus in Stücke gehauen. Viele Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, fast alle Bewohner auf grausamste Weise umgebracht. Frauen und Kinder wurden zusammengebunden und wie Vieh in die Türkei und auf die Krim getrieben und dort in die Sklaverei verkauft. Es gibt kaum Berichte über deren Schicksale, erschütternd sind die Briefe der Gräfin von Lehndorff aus Konstantinopel, in denen sie um das für ihre Freilassung geforderte Lösegeld bittet. Es konnte nicht aufgebracht werden. Agnes Miegel schildert in ihrer Erzählung "Das Lösegeld" den Freikauf eines versklavten Mädchens – aber um welchen Preis! Und in ihrem mahnenden Gedicht "Über der Weichsel drüben" klagt sie: "Deine jungen Töchter verschleppte der gelbe Tatar ..." In ihrem großartigsten Werk, den "Geschichten aus Alt-Preußen" wird in "Engelkes Buße" das Herrschaftskind von der durch eigene Kindstötung schuldig gewordenen Magd vor den mordenden Tataren gerettet. Aber wie viele Säuglinge wurden ermordet, wie viele elternlose Kinder irrten weinend umher und starben irgendwo in dem verwüsteten Land.

"O Vater! riefen sie, laß dich von uns finden. Geliebte Mutter ach, kannst du so verschwinden? Bis sie matt vom Weinen, matt von Frost und Darben und allen Trosts beraubt, auf den Feldern starben."

Pfarrer Johann Molitor hat diese Grausamkeiten in seinem Heimatort Groß Rosinsko selber erlebt, wo die älteren Bewohner erschlagen, die Frauen geschändet, Kinder zerschmettert und aufgespießt wurden. Molitor konnte sich in den Worguller Sümpfen verbergen und sich dort von Baumrinde und Wurzeln ernähren, bis die Tataren abgezogen waren. Der Raubzug hatte erst ein Ende, als am 16. September 1657 im Vertrag zu Wehlau dem Großen Kurfürsten von Polen die volle Souveränität über das Herzogtum Preußen zugesagt wurde, die 1660 im Frieden zu Oliva von allen Großmächten sowie vom Kaiser ihre Bestätigung erhielt. Molitor schrieb sich die Qual des Erlebten in der masurischen Sprache seiner Heimat vom Herzen, nichtsahnend, daß sein Tatarenlied einmal als das große authentische Dokument dieses grausamen Kapitels deutscher Geschichte – das leider nicht das einzige blieb – gewertet würde. Aber er war nicht nur ein dichtender Chronist, sondern auch ein Mahner, der in der harten Sprache der damaligen Zeit schonungslos Ungläubigkeit und verlorene Moral anprangert. Wer sich eingehend mit dem Tatarenlied – übrigens ursprünglich: Tartarenlied – befaßt, wird sehr nachdenklich werden.

Johann Molitor, der bis 1682 Pfarrer der Gemeinde blieb und unter der großen Linde auf dem Kirchplatz von Großrosen, wie Groß Rosinski umbenannt wurde, begraben liegt, hat noch erleben können, daß sein Lied am 3. Mai 1662 in voller Länge beim preußischen Friedensdankfest in den Grenzkirchen zu Polen gesungen wurde. Bis in die Neuzeit hinein fehlte es nicht in den Kirchen Masurens.

Sein Porträt, das bis Kriegsende in der Kirche von Großrosen hing, ist verschollen. Auch alle Nachforschungen über den Verbleib des Gemäldes, die Hans-Egon von Skopnik – auch über die Ostdeutsche Familie im – anstellte, blieben ergebnislos. Aber sein Tatarenlied blieb erhalten.

Das Tatarenlied

Von Johann Molitor (1656)

Betrübtes Vaterland! Netze Deine Wangen;/ Denkt, Preußen, was mit euch damals vorgegangen,/ Als man sechszehnhundert sechs und fünfzig zählte,/ Und ein ergrimmter Feind euch empfindlich quälte.

So wie ein Adlerschwarm, kam in schnellen Heeren/ Ein raues Herdenvolk, alles zu verzehren./ Unvermuthet sprengten wilder Barbarn Horden/ Auf raschen Pferden an, um hier frey zu morden.

Die angeschürte Glut schlug in hellen Flammen/ Gleich über Haus und Dorf, Kirch und Stadt zusammen./ Vieh, Gerät und Silber ward hierbey erbeutet,/ Und durch das ganze Land Furcht und Noth verbreitet.

Sein scharfer Säbel hieb alles ohn Erbarmen;/ Der Wütrich riß das Kind aus der Mutter Armen,/ Die mit nassen Wangen kläglich nach ihm blickte,/ Und tiefe Seufzer nur zu den Wolken schickte.

Auf den Feldern irreten armer Waysen Haufen;/ Bestürzet sah man sie durch einander laufen,/ Und gleich jungen Vögeln, wenn sie sich zerstreuen, Mit ängstlich banger Stimm, nach den Aeltern schreyen.

O Vater! riefen sie, laß dich von uns finden./ Geliebte Mutter, ach! kannst du so verschwinden?/ Bis sie matt vom Weinen, matt von Frost und Darben,/ Und allen Trosts beraubt, auf den Feldern starben.

Die Aeltern aber selbst lagen schon in Banden;/ Zur Freyheit war für sie gar kein Weg vorhanden./ Niemand durfte hoffen, sie von Strick und Ketten/ Der harten Dienstbarkeit je zu erretten.

Wie in dem Höllenpfuhl, hat an Händ und Füßen/ Das arme Christenvolk Bande schleppen müßen./ Ehegatten mußten sich gezwungen scheiden,/ Und so getrennt forthin allen Umgang meiden.

Sie wurden hingeschleppt in ein Land der Heyden,/ Um Gram und Ungemach überhäuft zu leiden./ Als sie angelanget, hat man unverweilet/ Den mitgebrachten Raub hier vergnügt vertheilet.

Die du zur Ehe nahmst, wird dein Weib nicht heißen;/ Ein Fremder soll sie dir von der Seite reißen./ Häuser, die du bautest, werden ledig bleiben:/ Denn in ein fernes Land wird man dich vertreiben. …

(Stark gekürzte Fassung)

 
     
     
 
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