|  | Denkmalpflege und     rekonstruierender Wiederaufbau  seit Georg Dehio, dem Begründer der modernen     Denkmalpflege in Deutschland zwei Welten, die nicht zusammentreffen dürfen. War die     Abkehr von der historistischen Rekonstrukion bzw. der Neuschaffung im historischen Geist,     der zwangsläufig immer auch Zeitgeist war, zu Beginn des 20. Jahrhunderts folgerichtig,     so schufen die katastrophalen Verluste an historischer Bausubstanz im Zweiten Weltkrieg  doch eine neue Ausgangslage. In der bundesdeutschen Nachkriegszeit waren es indessen     weniger die im Geist Dehios ausgebildeten Fachleute als vielmehr die Kommunalpolitiker,     Kirchengemeinden oder privaten Bauherren, die sich nicht mit einer lediglich entfernt am     verlorenen Bestand orientierten Bauweise zufrieden geben wollten. Sie drängten vielmehr     erfolgreich auf detailgetreue Rekonstruktionen, wollten sie doch das mit hohen emotionalen     Werten behaftete Stadtbild nach Möglichkeit zurückzugewinnen. 
 Eine rekonstruierende Wiederherstellung, verbunden mit einer Neuschöpfung "im     historischen Geist" könnte sich nun auch in Königsberg vollziehen, bei dessen     Wiederaufbau als sozialistische Musterstadt maßgebliche Zeugnisse der inkriminierten     deutschen Vergangenheit, zuvorderst das Königsschloß, ein für allemal aus dem Stadtbild     zu verschwinden hatten. Zumindest das Viertel des Kneiphofs, den jüngst wiederaufgebauten     Dom umgebend, könnte, folgt man den städtebaulichen Überlegungen des Architekten Baldur     Köster, in seinem historischen Charakter wiedererstehen. Seine Gedanken, die er als     "Entscheidungshilfe für alle diejenigen, die sich um das Wohl Königsbergs /     Kaliningrads bemühen" versteht, legt Köster als Anhang zu seinem unlängst im     Husum-Verlag erschienenen Band "Königsberg  Architektur aus deutscher     Zeit" dar. Es genügt Köster zufolge nicht, einzelne Relikte der historischen     Architektur Königsbergs als isolierte "Museumsstücke" zu pflegen, vielmehr     muß "im Innenstadtbereich die Identität mit dem Vergangenen wenigstens in Teilen     wiederhergestellt werden". Dies bedeutet für den Kneiphof, auf der Grundlage des     alten, in den Fundamenten durchaus noch vorhandenen Stadtgrundrisses einzelne Bauten als     Bezugspunkte vollständig zu rekonstruieren und  zeitgemäß genutzt und unter     Berücksichtigung einer effektiven Verkehrsführung  mit moderner, jedoch im     historischen Geist nachempfundener Architektur zu kombinieren. Grundlage für die     Zukunftsvisionen bilden exakte zeichnerische Rekonstruktionen verschiedener Bauzustände     des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
 
 Den Hauptteil des Bandes bildet indes eine eingehende Bestandsaufnahme der wichtigsten     erhaltenen Gebäude Königsbergs der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Mit Zeichnungen,     aktuellen Fotografien und Texten werden die Relikte  viele von ihnen erstmals      exakt beschrieben und in die allgemeine Architekturgeschichte sowie in die der Stadt     eingeordnet. Jedes der vorgestellten Objekte ist zudem mit Angaben über Bauzeit,     Bauherren und Architekten versehen, daneben mit Hinweisen auf bereits erschienene     Fachliteratur. Die vorgestellten Bauten reichen von den Befestigungsanlagen, den Kirchen     (auch denen der Vororte), der Universität und den Schulen sowie sonstigen öffentlichen     Bauten bis hin zu Hotels, Restaurants und Wohnhäusern aller Art. Auch auch die Brücken-     und Hafenarchitektur wird in die Betrachtung einbezogen. Als Auswahlkriterium gilt für     Köster in erster Linie der architektonische Rang des Gebäudes, wobei das ursprüngliche     Erscheinungsbild nicht allzusehr durch Zerstörungen und den zumeist vereinfachenden     Wiederaufbau in der Nachkriegszeit verunklärt sein sollte. Insbesondere bei der in     beträchtlichem Maße noch vorhandenen Wohnbebauung der Randbezirke erwies sich freilich     eine strenge Beschränkung auf exemplarische Fälle als unumgänglich. Mit Ausnahme des     Doms und der mittelalterlichen Kirche von Juditten entstammen sämtliche erhaltenen und     daher beschriebenen Gebäude der zweiten Hälfte des 19. bzw. der ersten Hälfte des 20.     Jahrhunderts.
 
 Als Beispiel für eine der vorgestellten Denkmalgruppen seien die Befestigungsanlagen     genannt, die Köster besonders eingehend behandelt. Deren Entwicklung wird von den     Anfängen im 13. Jahrhundert bis zur Umgestaltung der ehemaligen Wallanlagen zum     Grüngürtel in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts beschrieben. Dies geschieht     auch in Form von Stadtgrundrissen, welche die Zustände ab 1257, ab 1626, ab 1843 sowie     die Verhältnisse in den Jahren 1906/10 und vor 1939 nachzeichnen. Im einzelnen widmet     sich die Darstellung unter anderem den prächtigen Toranlagen des 19. Jahrhunderts     (Königstor, Roßgärter Tor, Friedländer Tor, Brandenburger Tor, Sackheimer Tor, Tor zum     Fort Friedrichsburg), deren ästhetische Wirkung sich König Friedrich Wilhelm IV.     bekanntlich in besonderer Weise angelegen sein ließ. Zumindest für das Roßgärter, das     Brandenburger und das Tor zum Fort Friedrichsburg ist der Fassadenentwurf dem Geheimen     Oberbaurat Friedrich August Stüler zuzuschreiben. Für das monumentale Königstor, dessen     Grundstein 1843 im Beisein des Königs gelegt wurde, ist eine Mitführung Stülers     immerhin zu vermuten. Wenngleich torsohaft schmücken dieses Tor auch heute noch die von     Wilhelm Ludwig Stürmer geschaffenen Statuen König Friedrichs I., Herzog Albrechts und     des böhmischen Königs Ottokar II.
 
 Gilt die historische Bausubstanz Königsbergs im Bewußtsein der Allgemeinheit als     weitgehend vernichtet, so wird die Menge dessen, was Köster trotz der Zerstörungen im     und nach dem Krieg sowie trotz der städtebaulichen Bereinigungen im Rahmen des     sozialistischen Wiederaufbaus noch vorzuweisen vermag, manchen erstaunen. Zu recht weist     der Autor jedoch darauf hin, daß  zumindest im Bereich der Innenstadt  das     Präsentierte ein allzu geschlossenes Bild des Erhaltenen suggerieren könnte. Mehr als     spärliche Orientierungspunkte können die historischen Bauten dort heute nicht mehr     bilden.
 
 Zweifellos stellt die denkmalpflegerische Bestandsaufnahme, die vier Fünftel des eng     bedruckten Bands ausmacht, das hauptsächliche Verdienst der Arbeit Kösters dar, die sich     ausdrücklich ebenso an interessierte Besucher wie auch an Fachleute und an die neuen     russischen Einwohner der Stadt wendet. Sämtliche der 235 aktuellen Fotografien sind in     Farbe wiedergegeben, was für erstere und letztere der Adressatengruppen sicherlich von     großem Wert ist, während der Architekturhistoriker in manchen Fällen wohl     konturschärfere und besser ausgeleuchtete Schwarzweißbilder bevorzugt hätte. Leider     erfolgte aus Platzgründen auch keine Gegenüberstellung von historischen Fotograpfien und     solchen des heutigen Zustands. Hervorzuheben sind jedoch nicht zuletzt die neu     gezeichneten historischen Stadtpläne sowie die 158 zum Teil nach örtlichem Aufmaß des     Autors erstellten oder korrigierten Grund- und Aufrißzeichnungen, die manches Defizit des     Dehio-Handbuchs von 1993 ausgleichen dürften. Verdienstvoll ist insbesondere auch die auf     Plänen und Fotografien beruhende zeichnerische Rekonstruktion der Straßenfronten des     Kneiphofs, jeweils verschiedene Bauzustände des 19. und frühen 20. Jahrhunderts     wiedergebend.
 
 Das Vorgelegte bildet das Ergebnis von vier Jahren vor Ort geleisteter Arbeit Kösters,     die im Zusammenwirken mit dem "Verein Gedenkstätten Königsberg" und russischen     Architekten und Denkmalpflegern erfolgte. Hervorzuheben ist, daß diese wichtige     Grundlagenarbeit im wesentlichen von Köster selbst finanziert wurde. Schon angesichts     dieser Tatsache wäre eine allzu kleinliche Kritik an eventuell zu findenden falschen     Einzeldaten oder fragwürdigen Benennungen unangebracht.
 
 Eine mögliche Stadtentwicklung Königsbergs in historischem Geist, das heißt unter     rekonstruierender Vergegenwärtigung des Verlorenen, hat, wie dies im westlichen     Deutschland in der Nachkriegszeit der Fall war  eine Sensibilisierung nicht nur der     Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung, sondern auch weiter Teile der Bevölkerung     zur Voraussetzung. Daß der vorliegende Band hierzu einen Beitrag leisten möge, ist     aufrichtig zu wünschen. Die in Vorbereitung befindliche russische Übersetzung, die     Alexej Schabunin, Mitarbeiter des deutschsprachigen "Königsberger Express"     vornimmt, könnte hierbei hilfreich sein. Voraussetzung für das Wiedererstehen eines     historisch geprägten Stadtbildes ist natürlich auch ein gewisses Maß an städtischer     Prosperität, die auf absehbare Zeit ausstehen dürfte. Ernst Gierlich
 
 Baldur Köster: Königsberg. Architektur aus deutscher Zeit. Mit 158 Zeichnungen und     235 Foto-grafien des Verfassers. Husum Verlag, Husum 2000, 256 Seiten, 69 Mark
 
 
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