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Die Heimat des Teufels

 
     
 
Die Heimat des Teufels, so ist auf einem Foto zu lesen, hat einen Namen: Workuta. An den Ausläufern des Urals, kurz vor der Polarmeer-Küste liegt diese russische Bergbaustadt, in der das Thermometer noch Ende März minus 37 Grad anzeigt. Bis Mitte der fünfziger Jahre waren auch Deutsche in Workuta zur Zwangsarbeit in den Kohle-bergwerken und Ziegeleien. Nur wenige überlebten das Grauen. Auf dem Höhepunkt ihrer menschenverachtenden Brutalität hatten die Sowjets 200 000 Menschen aus den verschiedensten Ländern in Workuta eingesperrt.

"Vergessene Opfer
" heißt eine von der "Lagergemeinschaft Workuta" zusammengestellte Ausstellung, die derzeit im Bundestag zu sehen ist. Daß die Ausstellung überhaupt zustande kam, liegt an den Mehrheitsverhältnissen vor dem 27. September. Besonders die CSU und ihr Landesgruppenvorsitzender Michael Glos hätten sich für das Projekt eingesetzt, berichtet Horst Schüler, ehemaliger Workuta-Häftling und einer der Organisatoren der Ausstellung. Glos boxte das Projekt gegen den heftigen Widerstand der Sozialdemokraten im Ältestenrat des Parlaments durch.

In der heutigen Öffentlichkeit werden die Schicksale der nach Rußland verschleppten Deutschen nur noch selten zur Kenntnis genommen. Und das Hauptproblem der ehemaligen Häftlinge sei nicht die finanzielle Entschädigung (sie betrug lächerliche zehn bis zwölf Mark pro Tag), "sondern daß man uns vergessen hat", sagt Schüler. Fast alle seien unschuldig verurteilt und nach Rußland verschleppt worden.

Bis heute weiß man auch nur ungefähr, wie viele Deutsche in den Lagern in Rußland saßen. 55 000 verurteilte Zivilisten sollen es gewesen sein, berichtet Günther Wagenlehner vom Institut für Archivauswertung auf einer Pressekonferenz vor Eröffnung der Ausstellung. Hinzugerechnet werden müssen noch 35 000 verurteilte Kriegsgefangene. Wagenlehner hat 40 000 Namen in seinem Archiv erfaßt. Beim Urteilsmaß kannten die Russen meist nur zwei Varianten: Entweder 25 Jahre Zwangsarbeit oder Todesurteil.

Schüler, der selbst fünf Jahre in Workuta war, berichtet: "Natürlich war Hunger eines der größten Probleme im Lager. Die Gefangenen bekamen täglich etwa 500 bis 600 Gramm Brot, zwei dünne Suppen und eine Kelle Kascha, einen dicken Brei aus Hirse, Mais oder Gerste. Außerdem gab es alle zehn Tage etwas Zucker. Medizinisch ist es kaum erklärbar, wie Menschen, die so schlecht verpflegt wurden, schwerste Arbeit unter Tage, auf dem Holzplatz des Bergwerks oder in der Ziegelei der Stadt leisten konnten, über viele Jahre hinweg." In den ersten Jahren wurden die Gefangenen sogar in Ketten gelegt. Briefkontakte waren verboten. Die deutschen Lagerinsassen durften 1953 zum ersten Mal nach Hause schreiben. Erst danach, so Schüler, habe sich die Versorgung gebessert, als Angehörige Pakete mit Lebensmitteln schicken durften.

Immerhin eröffnete Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) selbst die Ausstellung und zeigte damit, daß ihn – auch bei den jetzt anderen Mehrheitsverhältnissen – die frühere Genossen-Kritik unbeeindruckt ließ. Workuta stehe für Eis und Schnee, für Erfrieren und Vergessenwerden, für Haft und Folter, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und für Verzweiflung, sagte der SPD-Politiker.

Thierses Schlüsselsatz: "Auch wenn die Verbrechen des Nationalsozialismus unvergleichbar sind, wollen wir doch nicht übersehen, wie viele Menschen – auch Deutsche in der ehemaligen DDR – der Kommunismus gebrochen oder gar in den Tod geführt hat, weil sie Widerstand leisteten und sich dem Unrechtsstaat nicht beugen wollten oder weil sie sich das Recht nahmen, anders zu denken als die politische Führung."

Oft war es nicht einmal Widerstand oder eine von der kommunistischen Parteilinie abweichende Meinung, die die Sowjets dazu brachte, Menschen nach Workuta zu verschleppen. 1949 verhafteten sie in Guben 21 Deutsche, von denen elf zum Tode verurteilt und die anderen nach Sibirien geschickt wurden. Einziger Grund: Bei einem Mann hatten die Russen Zeitungen aus dem Westen gefunden.

Annerose Matz-Donath saß selbst zwölf Jahre unschuldig in kommunistischen Kerkern. Sie trägt heute Berichte von Opfern zusammen. Besonders grausig liest sich folgende Fundstelle: "Eine Russin in unserer Zelle hat uns erzählt, was die russischen Posten, die auch die Erschießungen machten, so sagten: Das müßtest du mal erleben! Wie die schreien, wenn sie erschossen werden. Was das bloß für Memmen sind."

Warum nach fast fünfzig Jahren noch diese Ausstellung? Horst Schüler versucht eine Antwort: "Soll uns bitte niemand sagen, daß für ewig und für alle Zeiten vorbei ist, was einmal war. Zu oft schon haben die Menschen hören müssen: Nie wieder! Das sind Floskeln für Sonntagsreden, die Wirklichkeit zeigt uns beinahe täglich, daß die Menschheit gegen keine Dummheit gefeit ist, die sie ins Verderben stürzt. Politische Rattenfänger hat es zu allen Zeiten gegeben, sie werden auch nicht aussterben."

 

 
     
     
 
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