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Die Worte wieder neu finden

 
     
 
Eine nicht mehr ganz junge Frau starrt ungläubig auf den Bildschirm, über den zwanzi Jahre alte Fernsehaufnahmen flimmern. Darin sieht sie sich selber als kommunistisch Jugendfunktionärin, die an der Seite des albanischen Parteichefs Enver Hodscha posier und euphorisch die Phraseologie über die historische Mission des Marxismus-Leninismus in Mikrophon spricht. Die Filmrolle ist zufällig
ihrem Sohn in die Hände gefallen allerdings ohne die dazugehörige Tonspur. Die verlorengegangene Sprache zu rekonstruiere – können oder wollen der Journalist und der Kameramann von damals ihm nicht helfen so daß er auf eine Expertin für die Taubstummensprache zurückgreift. Seine Mutte bestreitet zuerst, was die ihr von den Lippen gelesen hat, ehe sie sich unter große Anspannungen ihrer Vergangenheit öffnet.

Der Film "Intervista – Die Worte finden" des 1974 geborenen albanische Videokünstlers Anri Sala wirkt wie eine Parabel über die Verstörung, die seit 198 durch den Fall der Ideologien und Machtsysteme über die osteuropäischen Gesellschafte hereinbrach, und drückt einen wichtigen Impuls des neueren Kunstschaffens aus: Den Wunsc nach Erinnerung, Selbstvergewisserung, Orientierung und – wenn möglich – Katharsis.

Die Ausstellung "After the Wall. Kunst und Kultur im postkommunistische Europa", an der über hundert osteuropäische Künstler beteiligt sind, ist zur Zei in der Berliner Nationalgalerie im "Hamburger Bahnhof" und in Max-Liebermann-Haus am Brandenburger Tor zu sehen: Sinnfällige Orte unmittelbar a ehemaligen Mauerstreifen, die damit den geschichtlichen Umbruch hervorrufen, der auch de Hintergrund der hier ausgestellten Kunstwerke bildet. Die Künstler sind fast alle in de sechziger oder siebziger Jahren geboren: jung genug, um den Wechsel der gesellschaftliche Ordnung konsequent als Chance anzunehmen, zu reif und zu erfahren, um sich länger mi kritikloser Begeisterung darüber aufzuhalten.

Der 28jährige bulgarische Künstler Rassim Kristev präsentiert sich auf eine großformatigen Brustbild mit nacktem Oberkörper. Ein Modeltyp, der die Statussymbole de postsozialistischen Aufsteigers vorzeigt: das Kreuz für die Abkehr von der alte Ideologie, das Handy für die zeitgemäß-mobile Lebenseinstellung, das massive Armban zum Beweis des Wohlstands. Seine sieghafte Erscheinung ist das Ergebnis wohlkalkulierte "Korrekturen" am eigenen Körper. Auf zwei Fernsehapparaten sind die per Vide dokumentierten Phasen seines Bodybuilding-Trainings zu besichtigen. Flankiert wir Kristevs Installation von zwei Gemälden des Petersburger Malers Georgy Guryanov durchtrainierte Sportler, kraftvoll und seelenlos, "Ohne Titel", als Signum de modernen Existenz.

Generell fällt in dieser Ausstellung die Betonung der Körperlichkeit auf. Eine Körperlichkeit, die sich nach einer kurzen Phase der Befreiung neuen Reglementierunge und gesellschaftlichen Codes unterworfen sieht. Der "Moderne Held" de polnischen Fotokünstlers Piotr Jaros erhält die heilige Kommunion auf der Sonnenbank Das katholische Ritual ist in den Sog des Konsums geraten, die künstlichen UV-Strahle haben das biblische Licht ersetzt, und der avisierte "Neue Mensch" entpuppt sic als Abziehbild aus einem Schönheitskatalog. Ähnlich die Installatio "Neo-Golgatha" von Luchezar Boyadjiev (Bulgarien): Drei leere Anzüge, die Uniform der Geschäftsleute, sind mit ausgebreiteten Ärmeln nebeneinander an der Wan befestigt. Die verpönte Frömmigkeit ist als Religion des Geldes zurückgekehrt, die Menschen sind statt ans Kreuz der Ideologen an das der Kapital- und Waren-Zirkulatio geschlagen. Verblüffend auch das "Sweet girl" von Zuzanna Janin (Polen): Da süße Mädchen besteht aus einem Drahtgestell, das mit Zuckerwatte gewickelt ist. Die falsche Süßlichkeit schmilzt dahin und läßt ein unansehnliches Gerippe zurück.

In der Foto-Allegorie "Wir sprechen deutsch" schlägt der weißrussisch Fotokünstler Igor Savchenko den Bogen zurück in die Vergangenheit. Eine Reih retuschierter Kriegsfotos von Sowjetsoldaten aus dem Zweiten Weltkrieg, die in Deutschlan aufgenommen wurden. Darunter sind jeweils simple deutsche Redewendungen gestempelt, wi man sie in der Anfangsphase des Fremdsprachenunterrichts erlernt. Ein Verfremdungseffekt der auf die historische Vielschichtigkeit und die weiterhin wirksame Befangenheit in deutsch-russischen Verhältnis verweist.

Heiterkeit kommt auf beim Betrachten des "Islam-Projekts" der aus dre Protagonisten bestehenden Moskauer Künstlergruppe AES. Mittels Computertechnik haben si die Wahrzeichen großer Städte wie Moskau, Paris, Berlin, Rom und New York mi islamischen Symbolen und Szenerien versehen. Auf dem Petersplatz wird ein Basa veranstaltet, den Reichstag bekrönt eine riesige goldene Kuppel mit Halbmond, und die Freiheitsstatue bedeckt ihr Gesicht mit einem Schleier und hält in der Linken den Koran Ein "visueller Scherz", der grassierende Phobien benennt und zugleich ironisc unterläuft, der als "pro"-, aber auch "anti-islamisch" kritisier wurde. Dermaßen zwischen den Stühlen zu sitzen ist schon eine Leistung für sich.

"After the Wall". Kunst und Kultur im postkummunistischen Europa." Berlin, Nationalgalerie im "Hamburger Bahnhof" und Max-Liebermann-Haus. Die Ausstellung ist bis zum 4. Februar 2001 geöffnet. Eintritt 12 Mark. De englischsprachige Katalog kostet 70 Mark. Ein informativer Ausstellungsführer enthäl Erklärungen zu jedem Künstler und ist für 5 Mark erhältlich
 
     
     
 
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