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Die liebe Verwandtschaft

 
     
 
Großvater schiebt den noch halbvollen Teller beiseite, ihm schmeckt es heute nicht. "Aber Opa, was ist mit dir? Warum ißt du nicht? Ich habe doch gekocht wie immer." Großvater räuspert sich. "Laß nur Kind, laß ...! - Aber mir ist der Magen wie zugeschnürt. Ich habe keinen Appetit." - "So was aber auch", wundert sich die Tochter.

Auch gegen Abend geht es Großvater noch nicht besser. Sogar auf seinen Abendschnaps verzichtet er heute. Ganz zu schweigen von der Zigarre. Alarm! "Opa ist krank", flüstert man bedeutungsvoll im Hause. So geht es über Tage hinweg. Großvater wird schwächer und schwächer. Selbst am Tage hütet er immer öfter das Bett. Jetzt muß aber unbedingt ein Arzt ins Haus. Auch gegen Großvaters Protest. "Nur bei meiner Musterung habe ich einen Arzt aus der Nähe gesehen", wendet Großvater ein. "Aber wenn es doch sein muß, Opa." - "Herrje, was macht ihr euch für Sorgen? Es wird schon bald wieder ..."

Der Arzt erscheint trotzdem. Aber erst am späten Abend, als die Sprechstunde zu Ende ist. Nach allen Regeln seiner ärztlichen Kunst horcht er an ihm herum. Danach macht der Arzt ein bedenkliches Gesicht. "Diese Verantwortung möchte ich nicht auf mich nehmen", sagte er kurz angebunden, "der Patient
gehört in stationäre Behandlung." Großvaters Blick geht fragend in die Runde. "Was meint er damit?" - "Nun reg dich bitte nicht auf, Opa. - Aber der Arzt meint, du müßtest in ein Krankenhaus ..."

Der Krankenwagen ist noch am gleichen Abend zur Stelle. Natürlich machen sich Tochter und Schwiegersohn auch gleich auf den Weg. "Schau, Opa! - Schau aus diesem Fenster hier! - Dann kannst du uns sehen. Wir kommen mit unserem Auto gleich hinterhergefahren." Wenigstens das beschwichtigt den Großvater etwas. Dann muß das Auto aber doch noch einmal angehalten werden. "Und telefoniert auch gleich bei Onkel Willi und Tante Edith an!" ruft man in das Haus zurück. "Und Tante Helga und Onkel Werner vergeßt auch bloß nicht!"

"Aber das sind doch furchtbar teure Ferngespräche", klingt es ungläubig aus dem Haus zurück. "Papperlapapp, wenn der Opa doch ins Krankenhaus muß ..."

Das Bett ist schneeweiß bezogen, und Großvater sieht darin so zerbrechlich aus. Noch niemals hat der Großvater in einem fremden Bett geschlafen. Außer beim Militär natürlich. Aber das war ja auch etwas ganz anderes.

Großvater hält seine Hände gefaltet. Sie liegen derb und schwer auf der Bettdecke. Wie Fremdkörper scheinen diese großen, starken Hände an Großvaters zerbrechlich wirkendem Körper. Selbst in diesem hohen Alter zeugen die Hände noch von mühseliger Arbeit. "Ach Gott, wie Opa so daliegt", seufzt die Tochter. Ihr Mann nickt dazu. Er nickt mit sehr ernstem Gesicht.

Bereits am übernächsten Sonntag kommen sie alle angereist. Die teuren Ferngespräche haben sie aufgeschreckt. Man muß doch den Opa besuchen, wenn er im Krankenhaus liegt. Die Autos haben überdimensionale Formen, und sie sind blitzblank geputzt. "Wie geht es denn dem Opa?", gibt man sich ernstlich besorgt. "Och, es scheint ihm schon besser zu gehen. Gestern hat er sogar mit uns telefoniert." - "Der Opa ...?" - "Na ja, zusammen mit der Stationsschwester."

Großvater liegt zusammengekauert in seinem Bett, und der Besuch drängelt sich in langer Reihe durch die Tür. "Er kann ja schon wieder etwas lächeln, der Opa. - Oh, das ist aber schön ...!"

Die meisten Besucher hat Großvater seit längerer Zeit nicht mehr gesehen. Großvaters Freude ist daher ehrlich gemeint, und sie kommt von ganzem Herzen.

"Seht doch nur, der Opa leckt sich über die Lippen. Sicherlich hat der Opa Durst." Jedoch andere Hände sind schneller. "Hier Opa, trinke von diesem hier!" - "Aber was macht ihr denn?" - "Trinke lieber von diesem, Opa. - Es ist naturreiner Traubensaft, ganz ohne chemische Zusätze. - Ist zwar furchtbar teuer, aber ..."

"So, teuer ist euer Traubensaft? - Könnt ihr euch diese Kostspieligkeiten denn noch leisten? - bei den vielen Hypotheken ...?" Nicht nur der Großvater schluckt geräuschvoll.

Aber dann! "Müssen wir uns diese Unverschämtheiten gefallen lassen, Willi? - Also da hört sich doch alles auf! - Nun sag du doch auch mal etwas, Willi ...!" Aber Willi hört gar nicht hin. Die Männer sind schon bei ihrem Lieblingsthema: Autos natürlich! "Also für mich kommen nur noch Autos mit Sechszylindermotoren in Frage. Erst durch diese kultivierte Laufruhe ergibt sich ein erhabenes Fahrge- fühl ..."- "Ja, ja, ich habe gestern mit dem neusten Modell eine Probefahrt gemacht. - Wie im Flugzeug, sage ich euch ..."

Frauenstimmen melden sich jetzt wieder zu Wort. "Pssssst! - Seid doch mal still. Der Opa liegt ja so merkwürdig ruhig in den Kissen". - "Na, vielleicht schläft er ein bißchen". - "Vielleicht - aber streichel ihm doch mal über seine Hände."

Alle Stimmen klingen nun schrill und reichlich überlaut. "Schwe- ster ... Schwester ...!" - "Um Himmels willen, hört denn niemand?" - "Wo ist denn bloß der Stationsarzt?"

Endlich geht das Köpfeschütteln los. "Na, das scheint ja hier ein schönes Krankenhaus zu sein. - Niemand hat sich um den Opa gekümmert!"
 
     
     
 
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