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Ein Original

 
     
 
Es ist schon sehr lange her, seit ich ihm begegnet bin. Beim Nachdenken darüber, ob es noch Originale gibt - man muß heutzutage schon sehr lange überlegen - sah ich ihn vor mir, den alten Landbriefträger. Nennen wir ihn hier "Hinnerk Luer".

In einem Dorf, am Rande des Teufelsmoores, wo ich mit der kleinen Dorfschule eine schöne, mich befriedigende Aufgabe gefunden hatte, versah er bei Regen und Wind den Zustellerdienst. Landbriefträger zu sein, war für ihn kein Job, den man, wie heutzutage, eilig und hastig erledigte. Gemütlich zog er seine Straße und brachte die Post in die Häuser, lüftete auch mal die Wohnung kurz durch, wenn jemand verreist war und ihn darum gebete
n hatte und zog im Bewußtsein der Wichtigkeit seines Amtes weiter. Wurde er doch überall erwartet, denn neben der Post brachte er die neuesten Dorfereignisse ins Haus. Manches Schnäpschen belohnte ihn dafür und hatte seinen Augen einen besonderen Glanz verliehen.

Ich war erst kurze Zeit im Ort, als er mir eines Tages eine Ansichtskarte von Baden mit der Weserschleife und der Gastwirtschaft am anderen Ufer mit den Worten überreichte: "Da muß es im Winter aber sehr einsam sein." Ich drehte die Karte um und las was da stand. Eine ehemalige Schülerin schrieb, daß sie jetzt dort, in der Gastwirtschaft, in Stellung sei. Ich mußte über die Hellsichtigkeit meines Briefträgers schmunzeln. Fiel mir doch gleich der ostdeutsche Landbriefträger ein. In einem kleinen Dorf, in dem es keinen Kaufladen gab, hatte er der Pfarrersfrau die Post übergeben und beobachtete abwartend das Gesicht der lesenden Frau, als diese auch schon entsetzt ausrief: "Sowas aber auch! Der Superintendent kommt. Und ich habe nichts im Haus. Wo er doch so für meinen Bienenstich schwärmt." Ein befriedigtes Lächeln entspannte das Gesicht des Briefträgers: "Frau Pfarrerchen, regen Se sich doch man nich auf. Hab all an das jedacht." Und er holte aus seiner Tasche ein Päckchen hervor und überreichte es ihr. "Hat die Krämersfrau einjetutet. Die weiß ja, was man für n Bienenstich brauchen tut." So konnte die "Frau Pfarrerchen" den Kuchen backen und gewiß sein, daß außer dem Briefträger, aber durch ihn, noch andere Dorfbewohner an ihrer Aufregung durch den hohen Besuch teilnahmen.

Und so erging es auch bald mir. Es war die Zeit, als die DDR-Behörden einen gerne warten ließen, wenn man etwas von ihnen wollte. Ich wartete dringend auf eine Einreisegenehmigung. Rechtzeitig hatte ich den Antrag gestellt, und nun verging ein Tag nach dem anderen der kostbaren Osterferien. Schon schien die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit den Freunden zu schwinden. Fragte ich Hinnerk Luer: "Ist ein Brief aus der DDR für mich da?", so schüttelte er nur den Kopf. Doch eines Tages war es soweit. Mit dem Fahrrad von einer Besorgung heimkommend, wurde ich schon am Anfang des Dorfes erwartet. Eine Frau kam eilig an den Zaun gelaufen und rief mir zu: "Er ist da! Er ist da, der Brief mit der Genehmigung." Und als ich um die Ecke des Mühlenberges kam, öffnete sich ein Fenster im Giebel des Nachbarhauses und die Oma dort rief: "Nun können Sie fahren. Der Schein ist da."

Damals gab es in dem kleinen Dorf nur wenige Autobesitzer. Als ein Begräbnis im 7 Kilometer entfernten Kirchdorf anstand, mußte sich die Lehrerswitwe fragen, wie sie dahin kommt. Eine Busverbindung gab es nicht. Mit dem Fahrrad hinzufahren, war wohl nicht ganz passend. So erzählte sie dem Landbriefträger ihr Problem, und Hinnerk Luer wußte gleich Rat. Die Feuerwehrmannschaft führe mit dem Feuerwehrauto ja hin, da könnte sie mitfahren. Der Platz neben dem Fahrer sei ihr gewiß. Aber es ginge schon rechtzeitig los. Ja, darauf wolle sie sich einrichten. Sie wäre ja dankbar, daß sie mitgenommen würde.

Die beträchtliche Zeit vorher wurde gebraucht, um in der Gastwirtschaft am Großen Moordamm einen "kleinen Brand" zu löschen, der plötzlich in den Kehlen der Feuerwehrleute aufgetreten war. Dann ging es auf den Friedhof, um die Grabstelle zu begutachten. "Wat", rief Hinnerk Luer aus, als er der Grabstelle ansichtig wurde, "dor schall Opa Roornborg lingen? Veel to koort!" - "Dat ist groot genoch", widersprach der Friedhofsarbeiter, der noch mit der Schaufel daneben stand. "Un ick seegg di, veel to koort. Ick war die dat wiesen!" Und schon war Hinnerk in die Kuhle gesprungen und hatte alle Viere von sich gestreckt. Und tatsächlich, er hatte das rechte Augenmaß gehabt. Für Opa Roornborg mußte die Kuhle noch etwas vergrößert werden.

Wäre nicht die Lehrerswitwe mitgefahren, hätten wir von dieser Begebenheit mit Hinnerk Luer nichts erfahren. Die Rückfahrt von der Beerdigung mit dem Feuerwehrauto verlief nach dem Bericht der Frau sehr zeitaufwendig, denn in den umliegenden Moordörfern waren noch "kleine Brände" zu löschen. Nur sie zitterte um die wohlbehaltene Rückkehr zu später Stunde.

Meine ehemaligen Schüler, zu der Zeit im 1. Ausbildungsjahr, wollten einen Bus organisieren, um mich in meinem neuen Wirkungskreis zu besuchen. Und ich wollte in der Gaststätte am Großen Moordamm für diesen Besuch eine preiswerte Bewirtung vereinbaren. Es war ein grauer, nebeliger Märztag, der sich auf die Stimmung legte. Aber in der Wirtschaft ging es munter und fidel her. Da saß unser Hinnerk Luer inmitten seiner Jagdfreunde. Lebhaft begrüßte er mich als ungewohnten Gast und holte zu unserem Vergnügen eine nach der anderen seiner heiteren Erlebnisgeschichten vergangener Tage hervor. Wer einmal den vor Lebenslust sprühenden Mann dabei erlebt hat, kann das wohl nicht vergessen.

Seine lebhaft vorgetragene Erzählung spielte in der Zeit, als es keinen Alkohol im freien Handel gab, und eine Flasche selbstgebrannter Schnaps in hohem Kurs stand. Nun hatte einer seiner Jagdfreunde so eine allseits begehrte Flasche organisiert. Die sollte neben dem lange entbehrten Genuß auch ein besonderes Vergnügen bringen. Man beschloß, die Flasche dem zuzusprechen, der dafür das größte Wagnis zum Vergnügen aller auf sich nahm.

Hinnerk Luers Vorschlag war nicht zu überbieten. Die Männer sollten ihn an die Flügel der Windmühle binden und einmal herumdrehen. Mit großem Hallo ging es los. Vor der Mühle wurde es Hinnerk doch etwas ungemütlich. Seine Kumpane banden ihn, begleitet von vielen munteren Sprüchen, sorgfältig fest. Und nun, doch schweigend, begannen sie, das Mühlrad zu drehen. "Mi bewde nu doch son lütt beten de Büx", bekannte Hinnerk. Langsam drehte sich das Rad weiter. Schon war er bis zur Mitte gekommen. Was aber war das? Das Mühlrad stand still. Vor Beklommenheit hielt Hinnerk den Atem an. Senkrecht, mit den Füßen nach oben und dem Kopf nach unten, hing er am Mühlrad. Seine übermütigen Kumpane hatten das Mühlrad angehalten. "Dat wer to vel", schilderte Hinnerk sein Erlebnis, "ober wo kunn dat angohn? Dor keem keen Regen von boben, doch dat drüppde von boben in mien Näs. Jo, jo sowat kanns beläben."

Die Flasche Korn hatte er damals natürlich gewonnen, und dazu unser Gelächter über seine waghalsige Wette. "Kinners", schloß er den für uns so vergnüglichen Abend, "ick lev doch so geern. Wenn ick mol morgens upwoken do un bin doot bleben, ick wull mi dot argern." Hinnerk Luer, ein Original, unnachahmlich, unverwechselbar. Originale sind wie bunte Farbtupfer im gleichmäßigen Alltag. Nicht immer belustigend, bisweilen auch kantig und schrullig. Doch wenn es sie nicht gäbe, würden wir sie vermissen.
 
     
     
 
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