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In der Leere der Seinsvergessenheit

 
     
 
Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?" Wer diese Frage sinnlos findet, sollte Heidegger nicht lesen. Denn Heideggers gesamtes Denken kreist um Sein und Nichts. Heidegger wird studiert, er wird diskutiert und interpretiert, die Herausgebe der Gesamtausgabe kommt gut voran. Aber die Rezeption hat wenig Selbstverständliches. Zumindest in Deutschland nicht. Das hängt teilweise mit der politischen Verirrung des Philosophen in den Jahre 1933/34 zusammen, teilweise mit dem eigenwilligen Stil seiner Schriften, nicht zuletzt aber mit der Grundfrage selbst, die nicht nur in der angelsächsisch inspirierten Philosophie
als eine (ziemlich deutsche) Art der Narretei gilt. In Frankreich dagegen wurde und wird sein Werk gelassener aufgenommen, mehr noch: Heidegger zählt dort zu den Meistern des 20. Jahrhunderts. Der provinzielle Kritiker der Moderne, der von der "Ankunft der Götter" und vom "Geviert" redete, als Ahne der urbanen Postmoderne und ihres Zeitgeistes: So erregend unaufgeregt kann Philosophie sein.

Oder zwingt Heidegger, der am 26. Mai vor 25 Jahren in Freiburg im Breisgau gestorben ist und in seinem Geburtsort Meßkirch begraben liegt, zur Entscheidung? Ob schneidende Kritik, politisch-moralische Empörung oder Bewunderung überwiegen – Distanz zu Heidegger scheint immer noch schwer möglich. Die Philosophie unserer Zeit jedenfalls sähe ohne ihn anders aus. Heidegger, der Urkonservative, der "Schwarzwaldphilosoph" (Thomas Bernhard) war ein revolutionärer Geist. Wenige Denker nach Nietzsche haben traditionelle Formen und akademische Maßstäbe so radikal angegriffen.

Bekannt ist seine Einlassung zur Biographie des Aristoteles in einem Kolleg: "Er wurde geboren, arbeitete und starb" – und fortan ging es Heidegger um die "Sache des Denkens". Er mochte das Biographische nicht, es lenke ab. Spektakuläres zu berichten gibt es auch nicht, allenfalls die Liaison mit der Studentin Hannah Arendt. Der 1889 geborene Heidegger, Sohn eines Mesners studierte in Freiburg i. Br. katholische Theologie, habilitierte sich unter Rickert für Philosophie, brach mit dem Katholizismus, lehrte unter Husserl, ging 1923 nach Marburg (arbeitete dort mit dem protestantischen Theologen Rudolf Bultmann zusammen) und fünf Jahre später als Nachfolger Husserls zurück nach Freiburg. Das zeitkritische Timbre und existentielle Engagement von "Sein und Zeit" (1927) machten ihn schlagartig berühmt. Heidegger erklärte sich 1933 als Rektor der Universität für Hitler, zog sich allerdings schnell von der Politik zurück, entfaltete nach 1945 eine gewisse öffentliche Wirkung. Heideggers Denkweg bestand stets aus Aneignung und Abstoßung: Theologie, Phänomenologie, Metaphysik ... "Wege, nicht Werke", beschrieb er sein Denken, "Wegmarken", "Holzwege" ... lauten Titel. Heidegger verstieg sich auf diesen Wegen nicht selten, war immer wieder zum Umkehren gezwungen, aber die Höhe hat er nie aufgegeben. Das Krisenhaft-Drängende seines "Systems" ist offenkundig. Das bedeutet nicht, daß es Heideggers Gesamtwerk an Folgerichtigkeit fehle. Grundfragen halten sich durch. Es gibt nicht zwei oder drei Heideggers.

"Sein und Zeit" – ein Fragment – ist noch anthropozentrisch ausgerichtet. Was ist das Sein des menschlichen Daseins? Das Bewußtsein allein eben nicht. Der Mensch ist in seinem Umgang mit der Welt "gestimmt", und dieser Weltbezug – erfahren als "Sorge" – vollzieht sich als ein Verstehensprozeß. Unser Daseinsentwurf ist offen. Heidegger verläßt konsequent den Rahmen der Subjektphilosophie. Anfang der 30er Jahre vollzieht er die befremdlich wirkende "Kehre". Der Mensch wird nicht mehr aus der Abhebung von Tier oder Gott definiert, sondern als "Hirt" des Seins verstanden. Und schließlich geht es darum, die "Ortschaft" des Seins selbst zu denken. Aber wie? "Die Wissenschaft denkt nicht." Läßt sich das Sein überhaupt denken?

Wir leben, so Heidegger, in der "Leere der Seinsvergessenheit". Läßt sich die Frage nach dem Sein wiederholen? Der Versuch erfordert eine "Destruktion": den Abbau der bisherigen Aussagen über das Sein. Heidegger "verwindet" die Metaphysik. Aus der Metaphysik nämlich resultiere das vorstellende und begründende Denken der Moderne. Heidegger sieht in Platos Ideenlehre den ersten Schritt im Wandel der Wahrheit zur bloßen Richtigkeit der Aussage. Er sucht den "Sprung" in eine neue Ursprünglichkeit.

Heideggers Verfallsgeschichte ist im ganzen bedenklich, die Gewalttätigkeit mancher Interpretation ist auffällig. Heidegger verfällt einer teleologischen Konstruktion vom goldenen Anfang her. Aber seine Erörterung des Ungesagten in philosophischen Texten stellt einen unvergleichlich spannungsreichen Dialog dar. Wer von Heideggers Denken berührt worden ist, kann philosophische Grundworte nicht mehr in herkömmlicher Weise lesen. Heidegger hat die Geschichte der Philosophie neu aufgeschlossen: von den Fragmenten des Parmenides und Heraklit, über Plato und Aristoteles bis zu Kant, Hegel und Nietzsche. Seine Interpretationen "überhellen": Sie lassen am Text hervortreten, was der nicht von sich aus ohne weiteres sagt. Heidegger verstand Sagen als An-sich-Halten vor dem Ungesagten.

Martin Heidegger hat nicht nur die Vorurteilshaftigkeit des subjektiven Denkens und die Kristallisation des Subjektbegriffs aus dem alten Substanzbegriff gezeigt, er hat auf die Gegenwendigkeit der Wahrheit verwiesen: die Zusammengehörigkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit, Wesen und Unwesen, das Ineinander von Verbergung und Entbergung. Wahrheit ist für Heidegger ein Geschehen, das seine eigene Irre in sich enthält. Der Ort der Wahrheit ist nicht das Urteil, ihr Maß ist nicht die Richtigkeit.

Die metaphysische Tradition vollendet sich nach Heideggers Einschätzung in der technischen Einrichtung der Welt verhängnisvoll. Das Methodenideal des modernen Denkens herrsche total; die Verbergung des Seins zeige sich darin, daß alles Wirkliche als verbrauchbarer "Bestand" gesehen werde. Das "Gestell", so nennt Heidegger das Wesen der Technik: Instrumentalisierung der Transzendenz, Vernutzung von Welt. Er sah den Menschen "am Rande des Absturzes".

Um der Rede von "Seinsvergessenheit" überhaupt folgen zu können, muß man Heideggers kulturkritische Diagnose teilen: Ist die Moderne eine "dürftige Zeit"? Heidegger verstand Denken als Einübung in den Untergang – oder den rettenden Übergang. Er gab sich der eschatologischen Erwartung einer Umkehr hin, setzte Gelassenheit gegen das "Gestell", suchte die Zwiesprache mit Dichtern, mit Hölderlin vor allem, erwartete vom dichterischen Wort die Stiftung einer neuen Nähe zum Sein.

Gibt es eine Sprache, die an das Undenkbare rührt? "Es weltet." "Das Sein west an." "Das Nichts nichtet." "Die Sprache spricht" ... – wer redet hier? Heidegger war ein Suchender. Sein Denken ist nur im Vollzug zu verstehen. Er ist nicht stückchenweise konsumierbar, seine "Sprache" ist nicht die Sprache der Information. Heidegger ist bemüht, Sprachgewohnheiten aufzubrechen, das verdinglichende Denken durch ein "ursprüngliches" Aufladen der Worte zu unterlaufen. Er raunt wie ein Eingeweihter in die Geheimnisse des unbestimmten Seins, redet wie ein Wissender, ohne zu wissen, was er redet. Ein Gnostiker? Doch verweist er in seltener Gläubigkeit auf die Würde der Vox viva.

Heidegger hielt sich für kurze Zeit in der Nähe des Nationalsozialismus auf. Er wollte den "Führer führen". Er verkannte die "nationalsozialistische Revolution" als die Wiederherstellung der "Macht des Aufbruchs der griechischen Philosophie". Da gab es viel Peinlichkeit und menschliche Niedrigkeit. Aber ist Heideggers Philosophie "faschistisch"? Die bloß politische Kritik läßt sich auf diese Frage ungern ein. Heidegger deutet – schnell ernüchtert – den Nationalsozialismus nicht als Ausbruch, sondern als extremen Ausdruck des Nihilismus: der technischen Verdüsterung, der "Flucht der Götter". Heideggers Philosophie ist stets auf das Besondere, Individuelle gerichtet. Sie stellt den Menschen in das Offene. Das Sein ist unbestimmt, und diese Unbestimmtheit verbirgt die Freiheit des Daseins.

Für Heidegger war Philosophieren ein Wagnis der Freiheit. "Es denkt in mir. Ich kann mich nicht dagegen wehren." Dieses Wagnis gibt sich wenig feuilletonistisch. Heidegger fehlt die geschmeidige Kultiviertheit des Homo literatus. Er ist streng, sperrig, kauzig: im Zeitalter der optimistischen Nüchternheit eine Zumutung. Die existentialistische Reizwirkung, die von ihm ausging, ist dahin, das Pathos der Seinsfrage vergangen, das Bewußtsein des "Nihilismus" erst recht. Heidegger bedrängt nicht mehr. Viel von der kulturkritischen Grundierung gilt heute als überholt. Aber kommt man an ihm vorbei? Er ist bei weitem mehr als ein Anreger. Heidegger verändert das Denken – nach wie vor.

Unterschied in seinem denkerischen Schaffen drei Hauptphasen: der Philosoph Martin Heidegger, der in seinem Hauptwerk "Sein und Zeit" (1920) die Frage nach den Umständen menschlicher Existenz untersuchte, wobei er sich wesentlich an der ontologischen Tradition griechischer und neuzeitlicher Metaphysik ausrichtete. Der in Meßkirch 1889 geborene Denker war zunächst Professor in Marburg, bis er 1928 Rektor der Freiburger Universität wurde. Wegen anfänglicher Nähe zum Nationalsozialismus erhielt er von 1945 bis 1951 Lehrverbot. Er starb am 26. Mai 1976 in Freiburg im Breisgau
 
     
     
 
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