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Ein barbarisches Paradies

 
     
 
Europa steckt mitten in einer großen Diskussion über Gentechnik und Bioethik. Die Niederlande und Großbritannien haben dabei die wenigsten Skrupel. Kurz vor Ostern verabschiedete das Parlament in Den Haag ein Gesetz über aktive Sterbehilfe, London erlaubte das therapeutische Klonen.

In Deutschland zeigte man sich empört. Aber die Diskussion hierzulande steuert auch auf Euthanasie, therapeutisches Klonen und vorgeburtliche Auslese zu. Im Gesundheitsministerium sind die Würfel vermutlich schon gefallen, ebenso im Kanzleramt. Die Frage ist nur: Wie bringen wir es den Wählern bei, ohne allzu viele von ihnen zu verlieren? In der Öffentlichkeit wogt die Debatte noch.

Die Gefechtslage in Deutschland ist nach der Bundestagsdebatte deutlich zu erkennen. Auf der einen Seite stehen die Befürworter eines totalen Laissez-faire in der Gentechnik mit dem Argument, hier gehe es um die Gesundheit schwerkranker Menschen, auf der anderen diejenigen, die vor der kapitalen Macht des Marktes und der Enteignung der Menschlichkeit warnen, falls die Möglichkeiten der Gentechnik nicht ethisch eingehegt würden.

Zu den warnenden Stimmen gehört auch die der Fachjournalistin Ursel Fuchs, die in ihrem jüngsten Buch "Die Genomfalle" das Wachstum des Marktes beschreibt: "Weltweit sieht die Industrie den genetischen Code als Basis für neue Pharmaprodukte. Gewebe und Blut von Kranken, aber auch und vor allem von Embryonen und Föten, von Familien und ethnischen Gruppierungen mit hohem Krankheitsrisiko sind willkommenes Labor- und Datenmaterial. Patente garantieren Monopol
nutzung für 20 Jahre. Lizenzen bringen Gebühren. Am Gesamtmarkt biotechnologischer Produkte nimmt der Bereich Gesundheit und Pharma den Löwenanteil ein. Er wuchs weltweit von 550 Millionen Dollar im Jahre 1987 auf rund 13 Milliarden 1995 und ist seither weiter expandiert."

In der Debatte Ethik gegen Markt hat die Ethik kurzfristig wenig Chancen. Das liegt auch daran, daß Prinzipien und Prävention der Stoff sind, aus dem die Argumente gewebt werden. Aber prinzipiell und präventiv zu argumentieren greift zu kurz. Prinzipien können verneint werden. Prävention verhindert Leid. Während nun die Würde als solche von Verfechtern des Nützlichkeitsdenkens oder von Ideologen schlicht in Abrede oder auf Voraussetzungen gestellt wird, die sie de facto ausschalten (etwa der willkürlich gesetzte Zeitpunkt des Beginns menschlichen Lebens), geben Menschen, die trotz ihrer Behinderungen das Leben meistern und so eine Bestätigung für die Würde des Menschen und der Person liefern, ein im wahrsten Sinn des Wortes lebendiges Zeugnis für das Argument des Lebens. Sie machen ihre genetische Identität, die mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle in die Existenz gerufen worden ist, zum selbst gemeisterten Schicksal. Insofern liegt menschliche Größe auch in einem genetisch defekten Embryo. Und in seiner Selektion eine – künftig vielleicht staatlich autorisierte – Barbarei.

Von solchen gemeisterten Lebensschicksalen gibt es mehr, als man gemeinhin weiß. Es sind Schicksale aus dem Alltag, Menschen von nebenan. Zum Beispiel die Geschichte von Waltraud David, Jahrgang 1946, blind geboren, nach der Operation eines Hirntumors seit ihrem 21. Lebensjahr auf den Rollstuhl angewiesen. Sie lebt am Rand des Existenzminimums, aber in der eigenen Wohnung und nicht im Heim, wie die Angehörigen das wollten. Immer wieder wird sie als "bildungsunfähig" abgestempelt, dennoch macht sie die Amateurfunkerprüfung, obwohl es das Lernmaterial nicht in Blindenschrift gibt. Sie kann mit dem Computer umgehen und seit die Sozialgesetze in Blindenschrift vorliegen, läßt sie sich auch auf den Sozialämtern nicht mehr demütigen. Sie kennt ihre Rechte und hilft anderen im Kampf gegen die verständnislose Umwelt. Was sie erlebt hat, wäre Stoff für einen Roman von Viktor Hugo, Alexandre Dumas oder Charles Dickens. Die Blindenanstalt mit dem Schlafsaal für 22 Mädchen im Alter von sechs bis 17 Jahren, drakonische Strafen beim geringsten Fehlverhalten, die Angehörigen, die sich ihrer schämen und sie abschieben wollen, die spätere Hausbewohnergemeinschaft, die keine Behinderte in ihrer Mitte haben will, und immer wieder die Erfahrung, daß behindert gleichgesetzt wird mit "doof". Und dennoch sagt die heute 54jährige: "Ich liebe das Leben, ich liebe die Welt."

"Jetzt erst recht" heißt das Motto von Waltraud David, und nicht nur von ihr. Immer wieder stoßen Behinderte auf banale Hürden, die ihnen eine Ausbildung verwehren. Für die meisten hat erst die Arbeit in einer Selbsthilfegruppe das Tor zu einem relativ normalen Leben aufgetan. Viele kämpfen um ihren Job, nicht weil sie dessen Anforderungen nicht erfüllen könnten, sondern weil man ihnen einfach nicht zutraut, mit den Schwierigkeiten fertig zu werden. 188 000 der Schwerbehinderten sind arbeitslos, das entspricht 18 Prozent. Zwar muß jeder größere Betrieb sechs Prozent Behinderte einstellen, aber nur zwölf Prozent der Betriebe halten sich daran. Die anderen kaufen sich von dieser Pflicht frei, indem sie pro Monat für jeden nicht angestellten Behinderten 200 Mark zahlen.

Manchmal hilft die Familie. Die Eltern der Contergan-geschädigten Theresia Degener kämpften zäh mit den Behörden, bis ihre Tochter in die Regelschule aufgenommen wurde. Heute ist Theresia Degener, die Frau ohne Arme, Juraprofessorin und eine international angesehene Expertin für Menschenrechte. Schon oft sei sie aus Restaurants herausgeflogen, weil sie statt mit Händen mit den Füßen esse. Die Gesellschaft mag keine Andersartigen. Aber gerade sie haben oft das Schicksal der Gesellschaft bestimmt, sei es durch Erfindungen, durch politische Führung oder durch historische Taten. Thomas Alva Edison, der Erfinder des Phonographen, eines Vorläufers des Plattenspielers, war taub. Auch Beethoven komponierte in den späten Jahren, ohne zu hören. Der motorisch schwerbehinderte Kosmologe und Physiker Stephen W. Hawking überrascht mit seinen Erkenntnissen immer wieder die Welt, und der amerikanische Präsident, der die Alliierten zum Sieg über das von Hitler regierte Deutschland führte, Franklin Delano Roosevelt, litt an Kinderlähmung und war seit seinem 39. Lebensjahr an den Rollstuhl gefesselt. 24 Jahre lang machte er Politik vom Rollstuhl aus, zäh, willensstark, schonungslos gegenüber sich selbst. Der Astrophysiker Hawking, dessen Buch "Eine kurze Geschichte der Zeit" zum Bestseller wurde, leidet an ALS – Amyotrophe Lateralsklerose. Eine als unheilbar geltende Erkrankung der Nervenzellen, die im Rückenmark und Gehirn die Muskelbewegungen steuern. Eine Krankheit, die bei einem Gentest oder bei einer vorgeburtlichen Untersuchung vermutlich erkannt worden wäre. Dennoch schrieb die liberale "Zeit" einmal von ihm: "Hawking ist vielleicht mehr Mensch als wir alle. Sein Körper ist so elend und nutzlos, wie man es sich nur vorstellen kann, doch sein Geist zieht freier durch das Universum als jeder andere."

Freiheit, Willenskraft, Intelligenz, Selbstachtung, Würde – all diese Begriffe gerinnen in den Leben vieler behinderter Menschen zum Zeugnis der Menschlichkeit. Natürlich liegt in den Behinderungen und Gebrechen auch Leid, aber gerade in der persönlichen Überwindung dieses Leids auch die menschliche Größe. In der Diskussion um die Gentechnik und das therapeutische Klonen jedoch geht es nicht um die Überwindung des Leids, sondern um dessen Verhinderung und Verhütung. Im Prinzip ein edles Motiv, aber auch eines, das in seiner Absolutheit das Humanum verhütet.

Der gemeinsame Nenner von Verhütung bis Euthanasie ist der Eingriff in die Natur. Wo fängt der Eingriff an? Für manche schon bei der Bestimmung des Geschlechts oder der Augenfarbe. Es gibt bereits Firmen, die die Genwahl anbieten unter dem Motto: Schaffen Sie sich ihr eigenes genetisch gesundes Kind. Per Mausklick kann man dann die Eigenschaften auswählen – und die Natur weitgehend ausschalten beziehungsweise manipulieren. Solche Entwicklungen enden bei der Uniformierung, bei der Norm, die der endliche Mensch sich setzt im Wahn nach totaler Sicherheit. Das ist dann die genormte Lebensform – früher hieß es Familie – mit maximal zwei Kindern, reich an Genen, arm im Geist, mit viel individueller Sicherheit und wenig Menschlichkeit. Und dennoch bleibt der perfekte Mensch eine Utopie, schon weil er trotz allem in Gemeinschaft leben muß und die Beziehung zu anderen es ist, die sein Leben, ja seine Identität ausmachen. "Yo soy yo y mis circunstancias" – ich bin ich plus meine Umstände, so definierte der Ge- sellschaftsphilosoph Ortega y Gasset schon vor achtzig Jahren die Identität des Menschen. Zu ihr gehört unabdingbar die Gemeinschaft, selbst in ihrer Extremform als Eremit, der nur mit sich und Gott lebt. Der auf die Spitze der Retorte getriebene Individualismus aber tötet den Gemeinsinn, er reduziert die schicksalspendende Beziehungsdichte des Menschen. Und verhindert und verhütet damit auch den menschlichen Reichtum der Gesellschaft.

Auch hierfür gibt es Beispiele, wie ebenfalls die Geschichte lehrt. In der Tat, ohne ein Stück menschliche Ungewißheit wären die Deutschen um einen Amadeus Mozart oder Johann Sebastian Bach, um einen Otto von Bismarck, einen Freiherrn vom Stein, einen Imanuel Kant, Franz Schubert, Carl Maria von Weber, Ludwig van Beethoven oder Georg Friedrich Händel ärmer. Denn all diese Menschen, denen man geniales Wirken und Talent nachsagt, sie wären in der heutigen Durchschnittsfamilie von 1,2 Kindern und in der künftigen von maximal zwei erst gar nicht geboren worden. Sie hatten alle mindestens drei ältere Geschwister, Schubert, Weber, Bach, Händel und Mozart sogar sechs. Wieviel Ungewißheit also verträgt der moderne Mensch? Wie tief will er in die Natur eingreifen, um sich Gewißheit zu verschaffen? Was ist ihm die Risiko-Minimierung des einzelnen wert, selbst wenn dadurch die Gesellschaft menschlich verarmt?

Die totale Prävention hat ihren Preis. Die Geschichte aber lehrt uns, daß der Mensch unbezahlbar ist, sowohl die Geschichte des Alltags als auch die Geschichte der Menschheit. Der Mensch hat verlernt, mit dem Risiko und dem Leid zu leben. Aber es gibt die Vollkasko-Gesellschaft nicht. Die Suche nach ihr im Gen-Paradies führt geradewegs in die Barbarei. Was früher die menschenverachtende braune Ideologie vermochte, Experimente am Menschen, dazu verleitet heute der Ich-Wahn nach totaler Sicherheit in jedem Bereich. Auf der Strecke bleibt die volle Achtung der Menschlichkeit.

In der Gentechnik-Debatte kommt die Frage nach dem Sinn des Leidens kaum noch vor. Sie ist auch nur ahnungsvoll zu begreifen, wenn man über den Tag hinaus denkt. Es wäre eine Aufgabe der sinnstiftenden Institutionen, insbesondere der Kirchen, in der wogenden Debatte auf das Zeugnis von Behinderten, von Eltern, die ein Stück Ungewißheit akzeptieren, und auf die Folgen der Verhütungsmentalität hinzuweisen. Es geschieht auch schon hier und da. Kardinal Meisner hat mit seinem mutigen Vorstoß gegen die Königsteiner Erklärung die Zusammenhänge aufgezeigt. Es bedarf in der Tat guten Mutes, heute der vollen Menschlichkeit – und dazu gehören Leid und Ungewißheit – das Wort zu reden. Aber wenn es nicht geschieht, droht diese Gesellschaft ärmer zu werden und schließlich in ihrem materiellen Reichtum unterzugehen. An diese Wegmarke hat uns die Debatte auch geführt – an der Hand von Behinderten.

 
     
     
 
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