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          Nach Ansicht des sozialistischen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses der Pariser  Nationalversammlung bezeuge das Abkommen, das zwischen den EU-Mitgliedern erreicht wurde,  "eine fortwährende Erosion des europäischen Geistes und einen Anstieg der  nationalen Egoismen." Insgesamt wird diese Meinung von den meisten Blättern der  französischen Hauptstadt geteilt, die sehr kritisch, aber trotzdem zurückhaltend die  Ergebnisse des Nizza   er Gipfels kommentieren.
      Für die regierungsfreundliche "Le Monde" kann die Bilanz des Gipfels als  mittelmäßig gewertet werden, denn obgleich die Union in integrationsreichen Gebieten wie  der Währung, der Verteidigung und dem Aktiengesellschaftsrecht weiter fortschreite, fehle  es weiter an Institutionen, die diese Komplexe vertiefen und erweitern würden. Knapp  resümiert die christlich-demokratische Tageszeitung "La Croix" den allgemeinen  Eindruck mit dem folgenden Titel ihres Leitartikels "Mehr wagen".
      Der staatliche Auslandsrundfunksender "Radio France International", der als  die Meinung der Regierung vertretend gelten kann, bemerkte kurz nach Ende der  Verhandlungen, daß "Europa" wieder einmal zu keiner tatsächlichen Macht  geworden sei. Die führende Wirtschaftstageszeitung "Les Echos" schloß den dem  Gipfel gewidmete Kommentar mit der Bemerkung, daß die in Nizza erreichten Fortschritte  einfach wirtschaftlicher Natur gewesen seien und daß die Union lange "ein nicht  identifiziertes politisches Tier" bleiben sollte. Auf ihrer Titelseite schrieb die  Wirtschaftszeitung "Der Nizzaer Gipfel enttäuscht, der Euro sinkt." Und  "Les Echos" fürchtet, die Europäische Union werde auch nach Nizza kein  zusätzliches Gewicht gegenüber der Weltmacht USA besitzen.
      Der kritische Charakter der Kommentare der Pariser Presse bestimmt sich freilich durch  den Beginn der Elysée-Wahlkampagne. Alle Zeitungen unterstrichen, die  "Kohabitation" zwischen Chirac und Jospin an der Riviera habe gut funktioniert.  Die Presse argwöhnt allerdings mit einigem Recht, daß die gegenseitigen parteipolitisch  begründeten Angriffe bald wieder neu aufkommen werden.
      Und die erklärten oder eben auch noch nicht erklärten Anwärter auf den  Präsidentenstuhl, der 2002 zu erklimmen sein wird, äußern sich sehr negativ über das  erreichte Abkommen  vom Liberalen Alain Madelin bis hin zum Linkssozialisten  Jean-Pierre Chevènement. Ob die europäische Angelegenheit eine Rolle in der Kampagne zur  Wahl des Staatsoberhaupts noch spielen wird, bleibt dahingestellt. Auf jeden Fall fordern  die Euroskeptiker mit Charles Pasqua als ihrem maßgeblichen Führer erneut eine die  europäische Politik Frankreichs betreffende Volksentscheidung. Nach dem Erachten dieses  Altgaullisten und RPR-Abtrünnigen fehlte beim Nizzaer Gipfel "jeglicher politischer  Einsatz".
      Die Kommentare und Stellungnahmen der Unterhändler des Nizzaer Übereinkommens wurden  besonders karg mit Ausnahme des französischen Außenministers Hubert Védrine, der  unmittelbar nach dem Gipfel dem Privatfernsehsender TF 1 die Fragen eines  Spitzenjournalisten beantwortete. Laut dem Chef des Quai dOrsay fungiert die EU nach  der Regel des Konsenses. Die französische EU-Präsidentschaft hätte während des zweiten  Semesters 360 Stunden von Verhandlungen mit ihren EU-Partnern geführt und in Nizza das  Erreichbare auch erreicht. Das ist natürlich auch der Tenor der Äußerungen Jacques  Chiracs vor dem Straßburger Europaparlament und derjenigen Lionel Jospins vor der Pariser  Nationalversammlung. Nach Meinung des Staatspräsidenten handelte es sich darum, die  Hindernisse zu vermeiden, die alles kaputt gemacht hätten. Für Lionel Jospin wurde Nizza  "eine erfolgreiche Gelegenheit."
      Nach dem fünftägigen Marathon von Nizza herrscht insgesamt bei den französischen  Meinungsträgern eine gewisse Genugtuung, daß immerhin die EU-Osterweiterung stattfinden  kann. Alles in allem schätzt "Le Monde", die den Nizzaer Gipfel als "einen  kleinen Gipfel" tituliert, es handele sich nunmehr darum, eine neue Debatte über die  Formen der Institutionen und den Weg zu einem zweikreisigen Europa zu eröffnen und von  der Frage der zukünftigen Föderation zu sprechen.
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