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Gelassener Zweifler

 
     
 
Siegfried Lenz umgeht die Fragen, die uns Heutige bewegen, nicht, er setzt sich mit ihnen auseinander. Sein geradezu drängen- des Erzählertalent verbindet sich glücklich mit einem kurzgeknoteten, oft in sarkastische Wendungen gekleideten Humor. Die zuchtvolle, klangreine Sprache läßt den schöpferischen Menschen und Dichter erkennen. Man darf noch viel von ihm erwarten." – Diese Worte schrieb der Feuilletonredakteur des es, Erwin Scharfenorth, vor – 50 Jahren. Zehn Jahre später wurde der Schriftsteller Lenz mit dem Kulturpreis der Freundeskreis Ostdeutschland
ausgezeichnet. Weitere fast zehn Jahre später erregte der Ostpreuße unter seinen Landsleuten Aufsehen, als er auf Einladung Willy Brandts zur Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages nach Warschau reiste. Im Februar diesen Jahres schließlich wurde Lenz ("Ich bin ein Hamburger, der aus Masuren stammt") mit der Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Hansestadt Hamburg geehrt. Zwischen diesen Ereignissen liegen eine Fülle von Romanen, Erzählungen, Hörspiele, Schauspiele und Essays, die der Feder des Ostdeutschland entflossen, insgesamt rund 8500 Buchseiten mit einer Auflage von weltweit über 20 Millionen. Seine Bücher wurden in 22 Sprachen übersetzt. Die Werkausgabe, bei Hoffmann und Campe in Hamburg erschienen, umfaßt 20 Einzelbände. Lenz blieb "seinem" Verlag übrigens über die Jahrzehnte hindurch treu. Bereits 1951 erschien dort sein erstes Werk, sein Roman "Es waren Habichte in der Luft". Es folgten so bekannte Titel wie "So zärtlich war Suleyken", "Der Mann im Strom", "Das Feuerschiff", "Lehmanns Erzählungen oder So schön war mein Markt", "Deutschstunde", "Der Geist der Mirabelle", "Heimatmuseum", "Der Verlust", "Die Klangprobe" oder auch sein bisher letzter Roman "Arnes Nachlaß".

Vor allem mit dem Roman "Heimatmuseum" (1978) ist Lenz vielen seiner Landsleute "auf die Füße getreten". "Es gibt keine Rückkehr", ist dort zu lesen, "es gibt überhaupt für keinen eine Rückkehr zu dem, was einmal war." Lenz fordert dort eine "herkunftsorientierte Kulturpflege, nicht eine Wiederbelebung der Vergangenheit". "Nicht die Rückgewinnung der Heimat sieht Lenz als Aufgabe, sondern ihre gefühlsimmanente Einbeziehung in die veränderte Gegenwart" (Franz Heinz in der "Kulturpolitischen Korrespondenz").

Viele heimatvertriebene Ostdeutschland sehen heute in Lenz den Landsmann, der es mit seinen Romanen "zu was gebracht" hat und auf seine Weise von den Besonderheiten Ostdeutschlands kündet; sie sehen in ihm den Schriftsteller, der mahnend das Wort erhebt gegen Totalitarismus und für mehr Humanität und Völkerverständigung.

Anläßlich der Verleihung der Ehrenbürgerwürde wies Lenz, den Marcel Reich-Ranicki einmal einen "gelassenen Zweifler" genannt hat, in seiner Dankesrede auf die Verantwortung hin, die ein Schriftsteller zu tragen habe: "Vor fünfzig Jahren", so Lenz, "erschien mein erstes Buch; seitdem falle ich unter die Berufsbezeichnung Schriftsteller. Es gibt mehrere Definitionen der Literatur, eines aber ist sie gewiß: das kollektive Gedächtnis der Menschheit. Alles ist in ihr aufgehoben: Weltangst und Wagemut, Verblendung und Schuld, Pflicht und Verhängnis, und immer wieder die Erkundung neuer Lebensform. Sie ist Speicher und Fundus unserer Welterfahrung. Aufbewahren, was du gesehen, erlebt, durchstanden hast: Ich habe es immer als eine Aufgabe des Schriftstellers betrachtet ...

Zum Schriftsteller wird man weder bestellt noch berufen wie ein Richter; von niemandem erwartet oder ermächtigt, entschließt er sich, mit Hilfe des schärfsten und geheimnisvollsten und wohl auch gefährlichsten Werkzeugs – mit Hilfe der Sprache – zu handeln ... Und so schrieb ich über Auflehnung und Pflicht, über Flucht und Verfolgung, über Verstrickung und Niederlag ... Dabei versuchte ich, den Menschen in extremer Situation darzustellen, die Entstehung von folgenreichen Entscheidungen zu beschreiben und die Gründe von Zwang und Resignation aufzudecken ... Erinnern, wenn Vergessen groß geschrieben wird: damit möchte ich die Literatur betrauen ..."

Dieser Tage nun, am 17. März, kann der Schriftsteller Siegfried Lenz aus dem ostdeutschen Lyck seinen 75. Geburtstag begehen.

 
     
     
 
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