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Gustav Stresemann ahnte früh die Katastrophe

 
     
 
Nicht zu Unrecht vertreten viele Historiker die Ansicht, mit dem Versailler Vertrag nach Beendigung des Ersten Weltkrieges sei bereits der Grundstein für das weltweite Morden des zweiten globalen Krieges und die daraus entstandenen Folgen gelegt worden. Einer, der diese Gefahr instinktiv geahnt haben muß und große Teile seines politischen Lebens dazu benutzte, diese Gefahr zu bannen, war zweifelsohne Gustav Stresemann, 1923 kurzzeitig Reichskanzler und danach bis zu seinem Tod am 3. Oktober 1929 unter zahlreichen Regierungen verschiedenster Prägung Außenminister des Reiches. Vor 120 Jahren, am 10. Mai 1878 wurde Stresemann in Berlin geboren.

Im Grunde seines Herzens war diese Gallionspersönlichkeit des deutschen Liberalismus, ähnlich wie Reichspräsident
Friedrich Ebert, von seinen Lebens- und Entwicklungsjahren im Kaiserreich geprägt. Auch er, der Staatswissenschaft und Geschichte studierte und von 1902 bis 1918 das einflußreiche Amt eines Syndikus der sächsischen Industriellen inne hatte, sah, daß das Reich im wilhelminischen Sinne nur sehr wenig Zukunft haben werde. Eine konstruktive Alternative bot sich in der Nationalliberalen Partei, die ihn 1906 – er war noch keine 29 Jahre alt – in den damaligen Reichstag entsandte.

Seine Biographen haben nie einen Hehl daraus gemacht, daß Stresemann einer parlamentarischen Monarchie näher stand, als den revolutionären Geschehnissen von 1918. So kam es denn auch nicht von ungefähr, daß er nicht etwa der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei beitrat, sondern in der Folge vielmehr die nationalliberale Deutsche Volkspartei gründete, die er über Jahre hinweg im neuen Reichstag vertrat. Nicht also die heute so gängigen und unsäglich vereinfachenden Nomenklaturen links oder rechts treffen auf Stresemann zu. Im besten Sinne der Wörter war er liberal und national zugleich – im Sinne der Erhaltung des Ganzen, des Reiches, das Versailles mit unbarmherzigen Reparationen und Gebietsabtrennungen vor allem im Osten schwer getroffen hatte.

Kurz vor seinem Tode sagte Stresemann zu einem Vertrauten: "Ich denke, das bleibt nach mir, daß man ohne Gewaltmittel die Macht wiedergewinnen kann, und vielleicht als Wichtigstes: daß man durch Frieden und Verständigung ebensolche Siege zu erringen vermag wie durch Schlachten und Krieg." Retrospektiv hat Stresemann so ziemlich genau das umrissen, was im Kern sein politisches Wirken ausmachte. Dazu gehört sein Abbrechen des Ruhrkampfes im Jahr 1923 angesichts der widerrechtlichen Besetzung durch Frankreich ebenso wie sein Bestreben für eine Ausgleichspolitik in Mitteleuropa vor allem im Hinblick auf Frankreich, was schließlich 1926 in die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund mündete.

Stresemanns Sinnen und Trachten galt der Sicherung der Grenzen im Westen und Süden des Reiches, ohne dabei den Osten zu vernachlässigen. Zwar verzichtete er auf Elsaß/Lothringen, plante aber mit Hilfe seines kongenialen Freundes Aristide Briand vorausschauend das, was nach dem Zweiten Weltkrieg endlich Wirklichkeit wurde – die deutsch-französische Freundschaft. Der nationale Realpolitiker der Weimarer Zeit erhielt zusammen mit Briand dafür den Friedensnobelpreis. Das dazugehörige Vertragswerk von Locarno überzeugte sogar viele der zahlreichen Gegner Stresemanns. "Von Locarno aus muß ein neues Europa entstehen", sagte damals der Stresemann-Freund Briand. Stresemann selbst hat es nicht mehr erlebt. Erspart geblieben ist es ihm indes aber auch, daß es kein Europa der Vaterländer geworden ist. Konrad Rost-Gaudenz

 
     
     
 
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