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Katholische Kirche erstellte mit Erinnern und Versöhnen nur ein politisch motiviertes Schuldbekenntnis

 
     
 
Am Ende seiner Pilgerreise in das Heilige Land hat der Papst am 26. März an der Klagemauer in Jerusalem nach jüdischem Brauch ein Schuldbekenntnis mit Vergebungsbitte für das von Christen an Juden verübte Unrecht niedergelegt. Es war ein ergreifendes Bild, das Oberhaupt der katholischen Kirche, einen alten gebrechlichen Mann, an diesem besonderen Ort der Weltgeschichte beten zu sehen. Und es ist sicher einmalig in der Kirchengeschichte, daß ein Papst die Schuld der Kirche derartig betont und öffentlich ausspricht.

Jerusalem war der Abschluß einer von der katholisch
en Kirche unternommenen Aktion zum Heiligen Jahre 2000, das nach ihrer Auffassung in besonderer Weise begangen werden muß. Die Grundgedanken darüber hat der Papst in einem sog. "Apostolischen Schreiben" "Tertio Milennio Adveniente" (Im Angesicht des bevorstehenden Jahrtausends) ausgesprochen und in der Formel "Reinigung des Gedächtnisses" zusammengefaßt.

Um diesen ungewöhnlichen Vorgang näher zu erklären und theologisch zu begründen, hatte die katholische Kirche ein Bändchen mit dem Titel "Erinnern und Versöhnen. Die Kirche und die Verfehlungen ihrer Vergangenheit "Freiburg 2000" veröffentlicht, in dem eine Theologenkommission diesen einmaligen Vorgang begründet. In ihm wird deutlich gemacht, daß es sich im Grunde genommen um einen Akt handelt, der sich auf die gesamte Geschichte der Kirche bezieht, die ja in der Tat mancherlei Fehlverhalten (Kreuzzüge, Inquisition, Hexenwahn u. a.) zu beklagen hat.

Bei dem päpstlichen Schuldbekenntnis mit der Bitte um Vergebung war die deutsche Ev. Kirche am 19. Oktober 1945 dem Papst mit ihrem Stuttgarter Schuldbekenntnis mit dem Begriff der Kollektivschuld vorangegangen, wobei allerdings auffällt, daß die Schuld an den Juden damals nicht besonders erwähnt worden war. Dieses deutsche Schuldbekenntnis war, wie inzwischen deutlich geworden ist, die politische Instrumentalisierung eines religiösen Begriffs. Jede nähere Analyse des katholischen Akts zeigt, daß es sich ebenfalls um eine politische Instrumentalisierung handelt.

Die Frage nach Schuld und Vergebung berührt den innersten Kern des christlichen Glaubens. Nach Auffassung der katholischen Kirche muß dabei unterschieden werden zwischen der Kirche als göttliche Stiftung, die immerda heilig und unfehlbar bleiben wird und einzelnen Gliedern, die sich verfehlen und schuldig werden können. Diese sophistische Unterscheidung wird in "Erinnern und Versöhnen" festgehalten. Wie unmöglich sie in der geschichtlichen Wirklichkeit durchzuhalten ist, zeigt ein historisches Beispiel. Jeanne d’Arc wird 1431 von dem katholischen Bischof Pierre Cauchon wegen rückfälliger Ketzerei zum Feuertode verurteilt und in Rouon verbrannt, am 30. 5. 1920 von derselben katholischen Kirche heiliggesprochen und zur Schutzpatronin von Frankreich erklärt. Welches Urteil ist richtig. Hatte Jesus selbst nicht klar und unmißverständlich erklärt: "Eure Rede aber sei ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel" (Matth. 5,37)?

Ebenso verhält es sich mit dem Zentralbegriff der Schuld, die nach der Auffassung des hl. Thomas nur eine persönliche des Einzelnen sein kann. In seinem für die katholische Kirche bis heute grundlegendem Werk der Summa theologiae (Zusammenfassung der gesamten Theologie, abgefaßt seit 1264) heißt es:

Obwohl wir Schmerz über fremde Sünde empfinden müssen, ist nicht nötig, daß wir sie bereuen (Suppl. qu. II a 5).

Da die Reue jedoch ein unverzichtbares Element des katholischen Bußsakraments bildet, ist nicht ganz ersichtlich, was die "Reinigung des Gedächtnisses" bedeuten soll.

Und so erklärt Thomas:

Da der Büßende sein Gewissen in der Beichte offenlegen muß, so ist klar, daß er auf keinen Fall eine Sünde beichten darf, die er nicht selber begangen hat (Suppl. qu II a 5).

Mit anderen Worten, es ist die Schuld, die den Menschen zum Einzelnen macht. Deshalb kann es keine Kollektivschuld geben. Deshalb ist die "Reinigung eines doch immer kollektiv zu verstehenden Gedächtnisses" unmöglich.

Unmöglich ist für den christlichen Glauben auch die Beschränkung der Schuld allein auf die eine Seite, die dadurch für immer gebrandmarkt wird. Kein Zweifel kann darüber bestehen, daß diese Vergebung unter Menschen gegenseitig gewährt wird. Denn das Ziel bleibt immer die Konfliktüberwindung und die Ermöglichung eines neuen Anfangs. Von dem eigenen Schuldbekenntnis kann daher keiner dispensiert werden, denn das Vaterunser verpflichtet in der 5. Bitte jeden Christen dazu. Und diese Vergebungsbereitschaft bleibt zeitlich unbegrenzt, wie Jesus in seiner Antwort auf Petri Frage eindeutig erklärt (Matth. 1821f.)

Deshalb hat es wenig Sinn und bleibt praktisch bedeutungslos, wenn die eine Seite der zerstörten Gemeinschaft, ob frei oder gezwungen, derartige Schuldbekenntnisse mit Bitte um Vergebung ausspricht. Die Stunde, wo sie (vielleicht) hätte wirken können, ist längst vorüber. "Ewig still steht die Vergangenheit". Durch nichts konnte das deutlicher veranschaulicht werden als durch die Schuldbekenntnisse mit Vergebungsbitte, die Bundespräsident Rau fast gleichzeitig in Griechenland ablegte. Damit dürfte deutlich geworden sein, daß mit einer "Reinigung des Gewissens" das Problem nicht zu lösen ist.

Gleichwohl hätte die Katholische Kirche eine große Aufgabe in der gegenwärtigen Situation, indem sie das Naheliegendste und Selbstverständlichste zu erkennen in der Lage wäre, was ebenso für die Evangelische Kirche gelten dürfte. Noch ist der Zweite Weltkrieg nicht durch einen völkerrechtlich gültigen Frieden abgeschlossen. Das was die Menschen in ihrer bisherigen Geschichte vermocht haben, den Krieg durch einen Frieden zu beenden, ist für den Zweiten Weltkrieg bisher nicht möglich gewesen. Dabei gehört der Ruf nach Frieden zur Engelsbotschaft bei der Geburt des Erlösers: "Friede auf Erden den Menschen seines Wohlgefallens" (Luk. 2,14). Gehört es denn nicht seither zu den elementarsten Aufgaben der Kirche, die Menschen zum Frieden zu ermahnen?

Und das könnte auch politisch konkretisiert werden nach dem Vorbild großer Ereignisse unserer europäischen Geschichte. Das vorhandene Völkerrecht hat die dafür notwendigen Formeln geprägt. Es muß ein Friede nach dem Tabula rasa-Prinzip werden, der endgültig und für immer Schluß macht mit allen bisherigen Vorwürfen und Beschuldigungen. Er entspricht der Gegenseitigkeit in der Forderung Jesu und ermöglicht einen neuen Anfang.

Man darf vielleicht daran erinnern, daß die europäische und deutsche Geschichte nicht mit dem Jahre 1933 beginnt und nicht 1945 endet. Sodann wäre zu fragen, ob es in früheren Zeiten nicht schon ähnlich verzweifelte Situationen wie heute bei uns gegeben hat und wie die Menschen ihre damaligen Probleme gelöst haben. Da steht außer Zweifel, daß die deutsche Reformation und die durch sie hervorgerufene Gegenreformation eine lang dauernde und tief gehende politische Auseinandersetzung heraufbeschworen haben. Zwei historische Beispiele zeigen, wie die damaligen Menschen Lösungen gefunden haben, die wegweisend geworden sind und durch Hugo Grotius in das damalige Völkerrecht eingegangen sind. Der Jurist Friedrich Grimm, der bereits im Ersten Weltkrieg auf deutscher Seite tätig war, hat sie als klassische Beispiele bekannt gemacht. Danach ist das sogenannte Tabula rasa-Prinzip der oberste Grundsatz des Völkerrechts, "der besagt, daß nach jedem Krieg tabula rasa – reiner Tisch – gemacht werden, daß man einen Schlußstrich unter alle Vorgänge ziehen muß, die mit dem Krieg zusammenhängen, so schrecklich sie auch sein mögen und daß das nur durch eine Generalamnestie möglich ist, die ein wesentlicher Bestandteil des Friedens ist". (Friedrich Grimm, Politische Justiz, Die Krankheit unserer Zeit Bonn 1953).

Dieses Tabula-rasa-Prinzip ist zuerst von dem französischen König Heinrich IV. von Navarra durchgeführt worden. Es beendet die schweren blutigen Auseinandersetzungen der französischen Hugenottenkriege durch das Edikt von Nantes 1598, in dem es heißt "Das Gedächtnis aller Dinge, die auf der einen oder anderen Seite vorkamen … soll ausgelöscht und begraben sein wie etwas, das nie geschah; und es ist weder für unsere Staatsanwälte noch für irgendwelche öffentlichen oder privaten Persönlichkeiten zu irgendeiner Zeit oder irgendeiner Gelegenheit zulässig oder gestattet, ihrer Erwähnung zu tun und Prozesse oder Verfolgungen vor irgendwelchen Gerichtshöfen oder irgendwie gearteten Gerichtsverfahren einzuleiten. Es sei unseren Untertanen jedes Standes und jeder Art verboten, das Gedächtnis daran zu erneuen, sich gegenseitig anzugreifen, zu beleidigen oder herauszufordern durch den Vorwurf des Vergangenen aus welchem Grunde auch immer, sich darüber in Wort und Tat auseinanderzusetzen, Erörterungen zu beginnen, sich zu streiten oder zu kränken und zu beleidigen, sondern sie sollen sich beherrschen und friedlich zusammenleben als Brüder, Freunde und Mitbürger, widrigenfalls sie als Friedensbrecher und Störenfriede der öffentlichen Ruhe und Ordnung zu bestrafen sind. (Grimm, a. a. O. S. 169 f.)

Wenn man bedenkt, daß zu diesem "Gedächtnis der vorgefallenen Dinge" die Bartholomäusnacht vom 23./24. August 1572 gehört, wo nicht nur in Paris, sondern weithin in den Provinzen ein furchtbares Blutbad unter den Protestanten durchgeführt wurde, dann erscheint die Tabula rasa-Forderung fast unvorstellbar, zumal der Papst die Vernichtung des Ketzer durch Te Deum, Prozessionen und Gedenkmünze feierte und heute eine gute Gelegenheit zur "Reinigung des Gedächtnisses" hätte.

Nicht viel anders fünfzig Jahre später, am Ende des Dreißigjährigen Krieges im Westfälischen Frieden 1648 wird das Tabula rasa-Prinzip zu einem "Heiligen Grundgesetz" erklärt und in § 2 folgendermaßen formuliert:

"Beiderseits soll das ewig vergessen und vergeben sein, was von Anbeginn dieser Unruhen an, wie und wo nur immer, von der einen oder anderen Seite, hinüber und herüber an Feindseligkeiten geschehen ist … Vielmehr sollen alle und jede, von hier und von dort, sowohl vor dem Kriege als während des Krieges zugefügten Beleidigungen, Gewalttätigkeiten, Feindseligkeiten, ohne jedes Ansehen der Person derer gänzlich abgetan sein, daß alles, was auch immer der eine von dem anderen unter diesem Namen beanspruchen könnte, in ewiger Vergessenheit begraben ist." (a. a. O. S. 170)

Noch der deutsch-französische Krieg ist im Frankfurter Frieden von 1871 mit diesem Grundsatz beendet worden. So heißt es in Art. II Abs. 2 "Kein Bewohner der abgetretenen Gebiete darf wegen seiner politischen oder militärischen Handlungen während des Krieges in seiner Person oder seinen Gütern verfolgt, beunruhigt oder verhaftet werden." (a. a. O., S. 171)

Warum ist das Tabula rasa-Prinzip heute nicht mehr möglich? Warum hat der Zweite Weltkrieg bis heute kein völkerrechtlich verbindliches Ende gefunden? Die protestantische Kollektivschuld und die päpstliche "Reinigung des Gedächtnisses" können in keiner Weise als Ersatz anerkannt werden. Es wäre naheliegend und sinnvoll, den Schlußstrichfrieden anzustreben, da von französischer Seite die Zeit von 1914 bis 1945 als zweiter dreißigjähriger Krieg bezeichnet worden ist. Was liegt näher, als ihn nach dem Muster des ersten abzuschließen?

Schließlich kann auch nicht gut vergessen werden, daß das deutsche Volk schwerstes Unrecht von fremder Seite erlitten hat. Aus dem Osten sind viele Millionen Menschen aus ihrer Jahrhunderte hindurch bewohnten Heimat vertrieben worden, wobei mehr als zwei Millionen den Tod fanden. Bereits 1950 ist von Seiten der Vertriebenen auf jede Form von Schuldanrechnung und Vergeltung verzichtet worden. Daß mehr als zwei Millionen deutscher Kriegsgefangener auf westlicher Seite nach den Kampfhandlungen umgekommen sind, ist ein Sachverhalt, von dem bei den ständigen Aufrufen zur Erinnerung nicht die Rede ist, geschweige denn, daß der Gedanke eines Denkmals je geäußert worden wäre. Fest steht nur, daß jeder – natürlich nur deutscher – Soldat als Mörder bezeichnet werden kann. Vielleicht sollte in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen werden, daß Papst Pius XII. am 1. März 1948 ein denkwürdiges Schreiben an die Deutschen richtete, in dem er fragte, ob es denn überhaupt erlaubt sein könne, "zwölf Millionen Menschen von Haus und Hof zu vertreiben und der Verelendung preiszugeben". Er wünsche und hoffe es, "möchten alle Beteiligten zu ruhiger Einsicht kommen und das Geschehen rückgängig machen, soweit es sich noch rückgängig machen lasse". (Pommersche Zeitung v. 21. 3. 98)

Heute klingt das wie die Stimme aus einer anderen Welt. Wenn wir daher ständig zur Erinnerung aufgerufen werden, wäre doch zu fragen, ob das nur in Auswahl geschehen darf und wer das bestimmt.

Warum ist die Anwendung des Tabula-rasa-Prinzips heute nicht mehr möglich? Warum hat der Zweite Weltkrieg bis heute kein völkerrechtlich verbindliches Ende gefunden, wo von französischer Seite die Zeit von 1914–1945 als ein zweiter Dreißigjähriger Krieg bezeichnet worden ist? Die protestantische Kollektivschuld und die katholische "Reinigung des Gedächtnisses" können in keiner Weise als Ersatz anerkannt werden. Wir stehen vor der Alternative "Rache oder Versöhnung". Prof. Grimm hat die Politik des Sühnegedankens als die "geistige Erkrankung" unserer Zeit bezeichnet (S. 175). Man fragt sich, welche Autorität das Recht zur Verabsolutierung des Sühnegedankens hat. Sehr treffend erklärt Grimm: "Dazu gehört auch etwas Liebe! Die Macht der Liebe, der Urgrund der Kräfte, aus denen heraus unsere abendländische Kultur sich entwickelt hat, die christliche Idee und die Antike muß wieder lebendig werden in den Herzen. Erinnern wir uns des Ausspruches der Antigone: "Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da", und des christlichen Ausspruches: "Die Liebe aber ist die größte unter ihnen" (a. a. O., S. 175)

Das wäre eine Lösung, die sowohl dem christlichen Glauben als der politischen Vernunft entsprechen würde.

 
     
     
 
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