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Kein Aufstand der Hungernden

 
     
 
Anfang November 2005 erlebte Frankreich Straßenschlachten bisher unbekannten Ausmaßes, die den Pariser Studentenaufstand vom Mai 1968 weit in den Schatten stellten. Die neue Stadtguerilla erstreckte sich auf alle Großstädte aber kaum auf die Stadtzentren, während die Studentenkrawalle von 1968 die Pariser Stadtmitte als Schlachtfeld gewählt hatten. In beiden Fällen waren die Rebellen „jüngere Semester”, aber diesmal sammelten unter ihnen Kinder von zehn Jahren aufwärts Erfahrungen für spätere Schlachten. Damals handelte es sich um eine Rebellion von oft wohlhabende
n, verwöhnten Kindern der französischen Bourgeoisie. Ganz anders schien es diesmal zu sein, da die Meuterei in den armen Stadtgürteln tobte.

So ließ man verlautbaren, daß die Beweggründe die Armut und die Perspektivlosigkeit waren, in welcher diese Jugend aufwächst. Nur mit noch mehr Zuschüssen könne man die Wogen glätten! Die Gutmenschen holten ihre soziale Rhetorik hervor und labten sich daran. Schuldig waren nicht die Chaoten, sondern Staat und Gesellschaft. Zugegeben, die Jugendarbeitslosigkeit ist in Frankreich hoch und diese Jugend lebt am Stadtrand in Unterprivilegiertenghettos. Aber die Mehrheit der Aufständischen besaßen Handys, mit denen sie ihre Aktionen koordinierten. Sie hungern nicht, sie sind altersgemäß gut gekleidet, sie sehen gesund und kräftig aus. Es ist eine Frage der „political correctness“, nicht darauf hinzuweisen, daß es ihnen wesentlich besser als in den Staaten geht, woher ihre Eltern gekommen waren.

Daß bei vielen, insbesondere bei den jüngeren, gar keine tiefere soziale Motivation, sondern ein lustvoller Zerstörungsdrall der Anlaß war, schien für die Denker im Lande keine erstrebenswerte Diagnose zu sein. Offensichtlich ließen sich aber viele dieser Jugendlichen einfach von dem Drang leiten, an einem aufwühlenden Kollektiverlebnis teilzunehmen, der den Plebs ergreift, wenn die staatliche oder gesellschaftliche Autorität zurückweicht. Seit Jahrzehnten verhalten sich die französischen Behörden in den betroffenen Bezirken wie Vertreter eines „failed state“ – eines zerrütteten Staates. (Die US-Diplomatie spricht von „failed state“ im Falle von Ländern, in denen sich jede Ordnung aufgelöst hat.) So entsteht eine Spielwiese für den jugendlichen Spaß an der Gewalt. Für die Mehrheit dieser Jugendlichen war dieser Aufstand hauptsächlich Sport. Kaum jemand scheint bei dieser anhaltenden Meuterei mit riesigem Zerstörungspotential das totale Fehlen junger Frauen in den Reihen der Aufständischen beobachtet zu haben – anders als 1968. Ursache war freilich deren geringere Gewaltbereitschaft, aber selbst bei Interviews mit Anhängern der Rebellion waren kaum Mädchen zu sehen. Es lag vor allem daran, daß die Meuterer Moslems sind. Bei ihnen dürfen die Frauen keinen Anteil am öffentlichen Leben nehmen. Moslemische Mädchen werden von ihren Familien isoliert. Um so erfreulicher ist es, daß es vielen von ihnen gelingt, die Vorteile der freien Gesellschaft wahrzunehmen und sich durch die Inanspruchnahme von Aufstiegs- und Einstiegschancen vom Joch des mohammedanischen Kodex zu befreien. Die Integration der Mädchen aus jenen „Banlieues“, auch und vor allem der Farbigen unter ihnen, ist weiter gediehen als bei ihren Brüdern. Den Mädchen bietet die Demokratie eine zivilisatorische Chance, obgleich heute in moslemischen Kreisen ein Rückfall in die Primitivität stattfindet – am Tragen des Kopftuchs sichtbar. Für die jungen Männer sind dagegen die Verhaltensregeln des Islam von Vorteil, weil sie ihre sexuelle Vormacht sichern.

Es gibt das, was man nicht sieht und das, was man nicht sehen darf. Nach bewährter Methode wurde in den Medien und in der Politik von „les jeunes“, „den Jugendlichen“ gesprochen, die Autos in Brand steckten und Geschäfte demolierten. Dabei konnte jeder am Bildschirm sehen, daß die Täter ausschließlich Maghrebiner und Schwarzafrikaner waren. Das kann einer der Gründe sein, warum die Medien allmählich von dem Thema ließen – selbst in der Silvesternacht, als 450 Autos in Brand gerieten. Diese Realität der Medien bringt das Problem zu sehr ins Bewußtsein der Stammfranzosen. Bloß nicht zugeben, meint die Regierung, daß diese Revolte ein Kulturschock war. Und mit seinen vielgeschmähten Worten „Abschaum“ oder „Hooligans“ erfaßte selbst Nicolas Sarkozy nicht die ganze Problematik. Die Kriegslist der Meuterer orientierte sich tatsächlich an der palästinensischen Intifada: die Akteure sind kleine oder mittlere bewegliche Gruppen von Steine oder Molotowcocktails werfenden Jugendlichen. Mai 1968 hatte sich dagegen mit der Errichtung von Barrikaden an die französische Tradition gehalten. Die Revolte von 2005 war ethnisch-religiös und ein Beweis für das Scheitern des französischen „melting pot“, der „Assimilation“, geschweige denn ihres Gegenteils, der Multikultigesellschaft.

Auch die Inhalte waren Intifadakonform. Ein russischer Kollege aus Berlin und sein Kameramann wurden in Lyon-Vénissieux von sechs vermummten Steinewerfern lebensbedrohend angegriffen. Sie verdankten nur der Flucht mit ihrem schnellen Wagen ihr Leben. „Das geht hier seit Jahren so“, gestand ihnen der Polizeikommissar. Ausländische Journalisten haben beobachtet, daß vorrangig Autos der „Weißen“ angegriffen wurden, während Parolen liefen, daß man die Wagen der „Blacks“ und der „Moslems“ schonen sollte. Zahlreiche Meuterer trugen Abzeichen, die dem Islam oder dessen Helden wie Osama bin Laden huldigen. Manche haben den Kriegsruf „Allahu Akbar” gehört. In diesen Jugendbanden der postmigrantischen Gesellschaft schmückt man sich mit Stickern, die Sprüche aus dem Koran, das Bild der Kaaba oder die Konturen des afrikanischen Kontinents zeigen. Impulse gibt auch die Rap-Musik, die immer wieder Frankreich als eine „sexuelle Beute“ darstellt. Der anerkannte französische Philosoph Alain Finkielkraut äußerte, daß diese Revolte nicht sozialwirtschaftlich, sondern ethnisch-religiös ist und erhielt dafür Prügel. Der Mythos der „einen und unteilbaren Republik“ bricht auseinander.

„Unser Problem“, sagte bereits ein französischer Politiker in einer Rede am 19. Juni 1991, „sind nicht die Ausländer, das Problem ist die Überdosis, die ‚Overdose‘. Es stimmt vielleicht, daß es bei uns nicht mehr Ausländer als vor dem Zweiten Weltkrieg gibt, aber es sind nicht die gleichen und das macht den Unterschied. Sicherlich ist es weniger problematisch, wenn Spanier, Polen und Portugiesen bei uns arbeiten, als wenn es Moslems und Schwarzafrikaner sind.“ Dieser Politiker hieß Jacques Chirac.

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