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          Dabei     scheinen die Arbeitnehmervertreter noch nicht einmal zu ahnen, wie weit Müllers neue     Philosophie wirklich geht. DGB und DAG hörten lediglich "Lohnzurückhaltung"     und heulten reflexartig auf. In Wahrheit aber rührt der Minister an den Kern eines     Dogmas. Indem er nichts weniger als die Abschaffung des Flächentarifs fordert, schiebt er     den Grundsatz der Gleichheit unabhängig von persönlicher Leistung, Qualifikation    und     betrieblicher Rendite in die Gruft.
       Damit greift Müller weit über die Vorschläge des rheinland-pfälzischen     Ministerpräsidenten Kurt Beck (SPD) hinaus, der zwar Lohnzurückhaltung angemahnt, sich     dabei aber immer noch innerhalb der mechanischen Tarifpolitikvorstellungen der Linken     bewegt hatte.
       Schröders Wirtschaftsmann will mehr: Nach Regionen und Eignungen soll der Lohn     unterschieden werden, ja sogar nach der jeweiligen Arbeitsmarktlage. Soweit ist in 16     Jahren Kohl kein bürgerlicher Minister gegangen, jedenfalls nicht öffentlich und in Form     eines Jahreswirtschaftsberichts.
       Es lohnt sich, dem dahinterstehenden Grundgedanken zu folgen und die neue     Weltanschauung zu begutachten, die dem Bericht zugrunde liegt. Die gesamte Sozialpolitik,     aber auch die Idee, in ganz Deutschland, ja in Europa, "gleiche"     Lebensverhältnisse herzustellen, wird durch Müllers Thesen in Frage gestellt. Nicht die     bloße Tatsache seines Anstellungsverhältnisses, sondern der Marktwert seiner Leistung     soll darüber entscheiden, worauf ein Arbeitnehmer Anspruch hat.
       Das klingt hart und unsozial. Indes, man sollte es vor dem Hintergrund mit den     bisherigen Erfahrungen einer Gleichheitsideologie betrachten, die uns einen gewaltigen     Umverteilungsapparat beschert hat, der von Ungerechtigkeiten überquillt. Und der (dies     ist der Punkt, an dem Müller ansetzt) die Effizienz unserer Wirtschaft zunehmend     unterhöhlt.
       "Die SPD, die derzeit bei Umfragen bei 35 Prozent liegt, arbeitet hart daran, die     25-Prozent-Grenze zu erreichen", höhnt nun IG-Metall-Sprecher Jörg Barczynski. Man     möchte ihm angesichts der vernünftigen Thesen Werner Müllers eigentlich widersprechen      doch der Gewerkschafter schält einen wahren Kern heraus, der nicht nur der SPD     noch zu schaffen machen wird. 
       Was Müller, Schröder oder auch die jüngst hervorgetretenen SPD-Jungabgeordneten     mittlerweile zu Papier gebracht haben, ist das geistige Fundament einer     bürgerlich-liberalen, nicht sozialdemokratischen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das     bringt nicht nur die SPD ins Schleudern. Die Union, vielleicht mehr noch die FDP, wird     Schwierigkeiten haben, sich von dieser Linie abzusetzen. Erste Reaktionen auf die     "Maßhalten"-Rede von Kurt Beck ließen manchem CDU/CSU-Anhänger die These von     der "Sozialdemokratisierung der Union" schaurige Gewißheit werden:     "Unsinn" polterte CDU-Chef Schäuble, Sozialexperte Eppelmann sah den     "Sündenfall" gekommen, und der CSU-Generalsekretär Thomas Goppel meinte gar,     sich schützend vor die "Tarifautonomie" stellen zu müssen. 
       Besonders kritisch wird es für die dahinsiechende FDP. Als Mehrheitsbeschaffer kaum     noch von Bedeutung, können sich die Liberalen nur mehr über ihr Programm attraktiv     machen. Das jedoch besteht in den Augen der Öffentlichkeit weitgehend aus einer     Wirtschaftspolitik, die Werner Müller nunmehr eins zu eins übernommen hat.
       Die Opposition wird jetzt erwartungsgemäß darauf pochen, daß das alles nur Worte     seien, denen keine Taten folgen würden. Darin mag sie recht behalten. Doch welchen     Eindruck hinterlassen, daran gemessen, die 16 Jahre Union/FDP-Regierung?
       An den bürgerlichen Bundestagsparteien rächen sich jetzt aber nicht nur die     wirtschafts- und sozialpolitischen Versäumnisse der langen Kohl-Ära. Auch wird     vielleicht erst angesichts der (vorerst verbalen) Verbürgerlichung der     SPD-Wirtschaftspolitik richtig spürbar, wie wenig konservative oder nationalliberale     Substanz Union und FDP in Bereichen wie Gesellschaftspolitik, Kultur, Bildung oder     Sicherheit geblieben ist. Wie es scheint, könnten sie sich nur hier noch sichtbar von der     SPD abheben. Aber selbst in der Frage nationaler Interessenvertretung ist es Schröder,     der sich von Vorgänger Kohl zu mehr Zurückhaltung mahnen lassen muß. Und der Widerstand     der Union gegen den Doppelpaß war nicht nur halbherzig, sondern auch von erschreckend     kurzer Dauer.
       Warum noch SPD wählen, fragen sich die Traditionslinken aus ihrer Sicht völlig zu     Recht. Parteichef Schröders Trost indes wird sein, daß seine Kollegen Schäuble, Stoiber     und Gerhardt Briefe ganz ähnlichen Inhalts bekommen dürften.
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