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Manuela Rosenthal-Kappi berichtet über die aktuelle Literatur des Gastlandes auf der Frankfurter Buchmesse

 
     
 
Viel Lärm und Rummel gab es auf der 55. Buchmesse in Frankfurt am Main. Mit Klatsch- und Tratschgeschichten, ausgebreitet in von Ghostwritern erstellten Autobiographien, einstweiligen Verfügungen und medienwirksamen Auftritten überschütteten die allgegenwärtigen Promis der Bohlen-Familie, Dieter, Naddel, Daniel Küblböck, und andere noch aktuelle oder bereits in Vergessenheit geratene Stars der Unterhaltungs- und Sportlerbranche das Publikum. Und offensichtlich fühlen sich genügend Menschen angezogen von solcher Art Unterhaltung.

Doch hatte auch die diesjährige Buchmesse mehr als das zu bieten. Insgesamt wurden 335.000 neue Titel von 6.638 Ausstellern aus 102 Ländern vorgestellt. Ob Belletristik, Sachbuch, Kinder- und Jugendbuch oder Ratgeberliterat
ur das Herz des Lesers erfreuen, Auswahl und Präsentation waren vielfältig und faszinierend. Messe-Chef Volker Neumann bezeichnete die Frankfurter Buchmesse als "Inhaltemesse", auf der neben dem klassischen Buch alle multimedialen Printmedien Berücksichtigung finden. Neuerdings gibt es sogar ein Forum Film & TV. Die Messe war vom ersten Tag an gut besucht, und mit einer Besucherzahl von 273.000 konnte das Vorjahresergebnis um 7,7 Prozent gesteigert werden.

In diesem Jahr stellte Rußland sich unter dem Motto "Neue Seiten" als Gastland vor. Es kamen zirka 100 Literaturschaffende, Schriftsteller, Lyriker, Philosophen, Literaturwissenschaftler und Dramaturgen, von denen nur wenige bisher in Deutschland veröffentlicht wurden. Ein erklärtes Ziel der 200 Aussteller war es, russische Vertreter der jüngsten Schriftstellergeneration zu Wort kommen zu lassen. In 150 Lesungen, Ausstellungen und Konzerten hatten die Messebesucher Gelegenheit, sich einen Überblick über die russische Kultur zu verschaffen.

Schon beim ersten Rundgang über das Messegelände springt die Präsenz des Gastlandes ins Auge. Auf dem Platz vor dem Forum eine Musikbühne, in riesengroßen Lettern über dem Eingang des Gebäudes prangt das Motto, ein Fotoplakat wirbt für die Russendisco des Autors und Discjockeys Wladimir Kaminer. Im Innern des Forums kann der Betrachter die ganze Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit des zugleich vertrauten und doch fremden Gastes spüren: Im Eingangsbereich der Halle präsentieren Künstler traditionelle russische Handwerkskunst, eine Malerin verziert einen typisch russischen Lackteller mit Blumenmustern, ein Künstler fräst filigrane Muster in ein winziges Stück Elfenbein, an einem anderen Stand wird geschnitztes Kinderspielzeug ausgestellt, während hinter der Ausstellungsbühne ein "Beamer" Werbung und Informationen in russischer und deutscher Sprache auf eine Großleinwand projiziert. Inmitten der Zuschauerreihen sitzen Techniker am Mischpult, um die in Kürze stattfindende Lesung vorzubereiten.

In der Mitte der Halle wird mit einer Ausstellung der 300jährigen Geschichte St. Petersburgs gedacht, die Isaaks-Kathedrale und einige andere Gebäude sind in einem Gips-Leinen-Gemisch als Modelle nachgebildet. Gleich nebenan präsentieren sich das moderne St. Petersburg und Moskau auf Multimedia-Datenträgern. Für die Besucher sind mehrere Computer aufgestellt, an denen sie sich diverse Compact Discs und Videoclips ansehen können. Aufmerksames Personal steht helfend zur Seite, um auf deutsch, englisch oder russisch Auskunft zu erteilen.

In Vitrinen sind Miniaturausgaben der Werke russischer Klassiker zu bewundern. Das kleinste Buch der Welt ist nur wenige Millimeter groß. Man müßte eine starke Lupe zur Hand nehmen, um die Schrift entziffern zu können. Neben Bildbänden auf Kunstdruckpapier zur Geschichte Rußlands und seiner Hauptstädte sind an den Stellwänden Gemälde zeitgenössischer russischer Maler zu bewundern.

Auf der Bühne beginnt die Lesung von Wladimir Tutschkow, der aus seinem bei dtv erschienenen Erzählband "Der Retter der Taiga" liest. Der Übersetzer erklärt, daß Tutschkows Vorbilder Garcia Marquez und Vargas Llosa seien, der Autor allerdings seinen eigenen russischen Stil entwickelt habe. Tutschkows Helden sind "neue Russen", die meist in der Geschäftswelt angesiedelt sind: Es handelt sich um Bankiers, Businessmen und Banditen. Bei ihnen dreht sich alles ums Geld, sie sind davon besessen, es zu besitzen. Diese Obsessionen treiben die skurrilsten Blüten. Tutschkow erzählt groteske, überraschende, komische, aber auch grausame Geschichten.

Bei den in Frankfurt anwesenden Autoren handelt es sich um Schriftsteller, die sich bereits auf dem russischen Markt gut verkaufen. Die Lesegewohnheit des russischen Publikums hat sich in den vergangenen zehn Jahren sehr verändert: Der Mythos vom lesefreudigen und literaturbegeisterten russischen Volk hat einen deutlichen Abbruch erlitten. Die Menschen haben sich mehr und mehr der Unterhaltungsliteratur zugewandt. Dies zeigt sich an der gestiegenen Beliebtheit von Krimis, deren Verfasser, meist Autorinnen wie Polina Daschkowa, Alexandra Marinina oder Darja Donzowa, den Status von Popstars erreicht haben. Ihre Porträts zieren nicht nur Illustrierte, sondern auch Tageszeitungen. Sie sind häufig Gäste bei abendlichen Talkshows. Zu den "Popliteraten" aus Moskau zählen die junge Autorin Irina Deneschkina sowie der umstrittene, provozierende Wladimir Sorokin. Diese Schriftsteller könnte man als Vertreter einer Massenliteratur bezeichnen.

Die Literaturlandschaft des heutigen Rußland ist jedoch viel breiter gefächert. Die Vielfalt der gegensätzlichen Richtungen umfaßt alles - von radikal-extremistischer Literatur über Surrealismus, mystisch-metaphorischer Lyrik, von neo-avantgardistischer Lyrik bis hin zur "neuen Erzählung", die sich an Klassikern wie Nabokov orientiert. Zu den bedeutendsten Belletristikern des russischen Buchherbstes gehören Autoren wie Ljudmila Ulitzkaja, Tatjana Tolstaja, Andrej Bitow und Andrej Kurkow sowie Vertreter der Avantgarde wie Dmitrij Prigow und Wladimir Makanin.

Insgesamt gesehen hat sich die Literaturlandschaft in Rußland seit der Zeit der Perestroika grundlegend verändert. Gründe dafür sind neben der neuen Freiheit des Wortes und dem Wegfall der Zensur auch eine Vereinfachung im System der Vergabe von Drucklizensen. Das staatliche Monopol zur Bücherver-öffentlichung wurde abgeschafft. Dies führte zu einem steilen Anstieg der Verlage von 150 auf heute 5.000. Der zu Sowjetzeiten weit verbreitete "Samisdat" (Eigenherausgabe) hat seine Funktion praktisch verloren. Er wurde vorwiegend von Dissidenten der Sowjetära als Verbreitungsmittel ihrer verbotenen Publikationen genutzt. Nach der Aufarbeitung der Stalinverbrechen in der Literatur der Perestroika (Titel wie "Die Kinder des Arbat" von Rybakow oder "Über Nacht eine goldene Wolke" von Pristawkin wurden auch in Deutschland bekannt) begannen die Autoren der 80er Jahre sich vom Stil der Dissidenten zu unterscheiden. Sie strebten danach, die Literatur von ideologisch-missionierenden Ambitionen zu befreien und sie zu ihren künstlerisch-ästhetischen Wurzeln zurückzuführen.

Heute sind russische Schriftsteller aktiv wie nie zuvor. In Moskau und St. Petersburg wurden in den vergangenen Jahren originelle Literaturclubs und -cafés eröffnet, in denen sich interessante Leute treffen. Doch obwohl das russische Buchwesen inzwischen klare Konturen bekommen hat und es ein breites Sortiment an Büchern bereithält, gehen die Verkaufszahlen zurück. Die größten Konkurrenten für die Literatur in Rußland sind - wie anderswo auch - das Fernsehen und die zunehmende Verbreitung des Internets. Die Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit der russischen Mentalität findet auch oder gerade im Umgang mit Meinungsfreiheit und Pressefreiheit ihren Niederschlag. Kritiker bezeichnen die russische Demokratie à la Putin als ein groteskes Spiel, die Pressefreiheit sei nur vorgetäuscht. Wie schon zuvor könne ein Autor zwar alles schreiben, was ihm in den Sinn komme, aber wenn sich jemand aus der Obrigkeit durch das zu Papier Gebrachte gefährdet sehe, müßten Autoren und Verlag mit Unannehmlichkeiten wie der Durchsuchung von Verlagsräumen oder gar der Androhung einer Schließung rechnen. Hieraus hat sich eine neue Erscheinung gebildet: die Verbreitung von Literatur via Internet. Hier veröffentlicht alles, was keinen Verleger gefunden hat. Somit hat das Internet heute den ehemaligen Samisdat abgelöst. Auch das russische Vorgehen in Tschetschenien und die einseitige Bericht- erstattung in den Medien wird der russischen Regierung von Menschenrechtlern wie Sergej Kowalew immer wieder zur Last gelegt.

Die im postsowjetischen Rußland begangenen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, Afghanistan und andernorts prangert die in den 80er Jahren gegründete Menschenrechtsorganisation "Memorial" an, zu deren Verdiensten die Auflistung und Veröffentlichung stalinistischer Verbrechen zählt. Auf mehreren Stellwänden wird das System der sowjetischen GULags dargestellt. Die Organisation sorgt unter anderem für die Veröffentlichung bisher geheimer Lagerarchive.

Trotz aller Konkurrenz durch Internet und Fernsehen mißt die russische Gesellschaft der Literatur auch heute noch eine große Bedeutung zu, was sich nicht zuletzt in dem Interesse an Neuausgaben der russischen Klassiker zeigt.

Beim Rundgang durch das Erdgeschoß von Halle 5, in der Verlage Mittel- und Osteuropas ihre Produkte ausstellen, fällt auf, daß es trotz aller Veränderungen im gesellschaftspolitischen Bereich gravierende Unterschiede zwischen Ost und West, politisch und privat, gibt: Die Messestände der russischen Privatverlage sehen eher bescheiden aus, während staatliche Publikati-onsorgane wie das karthographische Institut über moderne, großzügig gestaltete Stände verfügen. Ein eher trauriges Erscheinungsbild zeigt der einst renommierte Mos-kauer Verlag Raduga, der früher bedeutende Kinderbücher in mehreren Sprachen und Übersetzungen ausländischer Klassiker verlegte. Der Messestand besteht aus zwei Stellwänden ohne jede weitere Illustration, an denen die Buchtitel befestigt sind. Davor drei Stühle, auf denen drei ältere Damen - Pensionärinnen? - sitzen und nur unwillig Auskunft erteilen.

Am anderen Ende der Halle - sie ist nur etwa zu drei Vierteln von russischen Verlagen belegt - präsentieren sich Kroatien und Litauen. Hier haben die Aussteller dazugelernt. Sie präsentieren sich großzügig und weltoffen.

Stellvertretend für die zahlreichen Neuerscheinungen vermitteln die nachfolgenden Titel einen klei- nen Eindruck neuer russischer Literatur:

Wladimir Tutschkow: "Der Retter der Taiga", 194 Seiten, Taschenbuch, dtv 2003, 14 Euro: Das Taschenbuch enthält 15 Erzählungen über die Absurdität des Alltags, in dem kriminelle Helden aus wohlsituierten Verhältnissen sich vordergründig um ihr Geld und die Befriedigung ihrer skurrilen Neigungen kümmern. Tutschkow arbeitet seit Jahren als Journalist und hat mit seinen ironisch-zeitkritischen Erzählungen in Rußland große Bekanntheit erlangt.

Ljudmila Ulitzkaja: "Die Lügen der Frauen", 168 Seiten, gebunden, Hanser 2003, 16,90 Euro: In ihrem neuen Roman stellt die Autorin die Frage, warum Frauen immer Lügen benutzen müssen und Männer immer ausweichen. Ljudmila Ulitzkaja ist keine Unbekannte auf dem deutschen Buchmarkt. Ihre Erzählungen und Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. "Die Lügen der Frauen" eroberte die deutsche Bestsellerliste; der Roman ist seit Wochen unter den besten zehn in der Rangliste zu finden.

Andrej Kurkow: "Pinguine frieren nicht", 538 Seiten, Taschenbuch, Diogenes 2003, 22,90 Euro: Der Kiewer Redakteur Viktor flieht vor der Mafia zu einer Polarstation in der Antarktis. Doch auch hier findet der Held keine Ruhe, kehrt mit falscher Identität nach Kiew zurück, vermißt seinen Pinguin Mischa, den er schließlich in Tschetschenien wiederfindet. Kurkow schreibt Geschichten, die so leicht und traurig wie das Leben selbst sind.

Galina Dursthoff (Herausgeber), "21 neue Erzähler", 286 Seiten, Taschenbuch, dtv 2003, 9,50 Euro: In dieser Anthologie stellen sich 21 neue russische Autoren vor, die nur zum Teil im Ausland veröffentlicht wurden. Allen Erzählungen ist eine Kurzbiographie der Schriftsteller mit Foto vorangestellt. Es sind unter anderem Beiträge der oben genannten Autoren Daschkina, Ulitzkaja, Tutschkow und Sorokin enthalten, so daß der Leser sich ein Bild der derzeit publizierenden Autoren machen kann.

Wladimir Kaminer: Der Pop-Literat beim Signieren in der Russendisco. Tagsüber lesen seine Fans in dem von ihm verfaßten Bestseller, und abends tanzen sie in der Discothek nach der von ihm aufgelegten Musik. Foto: Hirth

Der Lesetrend geht von der schweren zur leichten Literatur Die Perestroika stellt auch in der Literatur eine Zäsur dar. Das Internet ersetzt die Eigenpublikation als Oppositionsmedium
 
     
     
 
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