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Neu in den Kinos: Schlesiens Wilder Westen

 
     
 
Am 14. November kommt in Berlin ein außergewöhnliches Werk in die Kinos: "Schlesiens Wilder Westen - ein Heimatfilm". Etwas später wird der Streifen ein halbes Jahr lang auch in vielen anderen deutschen Städten zu sehen sein, wobei er sicherlich kein Massenpublikum anspricht. Dafür fehlt - modern ausgedrückt - die "action".

Dieser Film der 1957 im niederrheinischen Moers geborenen Ute Badura erfordert das genaue Zuhören und -sehen ebenso wie das Interesse für die Lebensschicksale normaler Menschen.

Über die volle Länge von 98 Minuten kommen heutige und frühere Bewohner des schlesischen Dorf
es Seifershau (poln: Kopaniec) zu Wort. Kein Kommentar stört ihre Erzählfreude und nötigt bestimmte Interpretationen auf.

Dennoch verfolgt der Film erkennbare Absichten, die über das rein Dokumentarische hinausgehen. Er will, wie es im Untertitel treffend heißt, ein "Heimatfilm" sein und die untrennbare Verbundenheit von Menschen mit ihrer Heimat verdeutlichen.

Am Beispiel des Riesengebirgsdorfes Seifershau sind dies die heutigen polnischen Einwohner sowie die Teilnehmer einer Busreise aus der Bundesrepublik nach Schlesien im August 2000. Die Kamera begleitet letztere schon bei der Anfahrt und dann während des Aufenthalts an jenem Ort, aus dem man sie zumeist ab dem Sommer 1946 vertrieben hat.

Seifershau war ein Teil jener ostdeutschen Gebiete, denen die polnischen Neuankömmlinge angesichts chaotischer Verhältnisse den Beinamen "Wilder Westen" verliehen. Der Film zeigt die früheren Bewohner vor den Ruinen ihrer Häuser oder im Gespräch mit Polen, die in erhalten gebliebenen Gebäuden ansässig wurden und häufig aus den sogenannten ostpolnischen Gebieten jenseits des Bugs stammen. Nicht selten pflegen diese Menschen untereinander seit Jahren herzliche Verbindungen.

Verschiedenste Eindrücke mischen sich: die Idylle der Riesengebirgslandschaft, das bis heute stark vernachlässigte Ortsbild von Sei-fershau, die Gastfreundschaft der Polen, die Freude der vertriebenen Schlesier, endlich wieder "daheim" zu sein, und die Trauer um das, was endgültig verloren ist. Die "Heimwehtouristin" Marianne Rohleder spricht Gefühle aus, die wohl die meisten ihrer Reisebegleiter ähnlich empfinden: "Wenn ich zu Hause bin und ich weiß, ich fahre nach Seifershau, dann kribbelt es bei mir überall. Dann ist wieder das Gefühl da: Heimat, obwohl es eigentlich die Heimat nicht mehr ist."

Wie es war, als noch die alteingesessene deutsche Bevölkerung in Seifershau lebte, zeigen eingeblendete Schwarzweißfotos. Sie sind so geschickt gewählt, daß sie den Betrachter immer wieder auf kurze Zeitreisen in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mitnehmen.

Andererseits werden Perspektiven für die Zukunft eröffnet: Zwei Polen aus der mittleren Generation erzählen in ihrer Sprache (der Film ist bei allen polnischen Gesprächspartnern mit deutschen Untertiteln versehen) über die eigene Beziehung zu den Deutschen, zu Schlesien und zu Seifershau. Beide sind mit den Besuchen der ehemaligen Einwohner aufgewachsen und beklagen das mangelnde Interesse der älteren polnischen Generation an der deutschen Vergangenheit.

Ebenfalls zuversichtlich stimmt der Neubeginn, den ein jüngerer Deutscher und seine Familie in Sei-fershau wagen. Als Sohn einer aus dem Ort vertriebenen Schlesierin hat Jörg Kaste entgegen allen Vorbehalten (insbesondere seitens der Mutter) inmitten der polnischen Umgebung ein altes Haus gekauft und auf Vordermann gebracht.

Aber nicht nur Erfreuliches kommt im Film zur Sprache, sondern auch schlimme Erinnerungen an die vielen Plünderungen und Vergewaltigungen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Bei einem polnischen Zeitzeugen blieben diese Ereignisse unvergessen. "Manche behandelten die Deutschen wie den letzten Dreck!" bedauert er. Eine ältere Frau zeigt sich ähnlich selbstkritisch angesichts des heutigen Zustandes des Dorfes: "Solche Ruinen sind eine Schande für Polen. (...) Deutsche, die hierher kommen, sagen nichts Gutes über die Polen. Verdammt, sie haben Recht!"

Ansonsten spiegelt sich in den Antworten (ost)polnischer Pro-tagonisten das Bedürfnis, nach Jahrzehnten kommunistischer Tabuisierung endlich offen über den Heimatverlust zu sprechen. Krzysztof Paszkowski erinnert sich: "Am Anfang hatte man schreckliche Sehnsucht nach dem Seinen, nach dem Haus; genauso wie die Deutschen Sehnsucht hatten, so sehnten wir uns auch danach wieder zurückzukommen." Darüber hinaus wird das historisch nicht ganz zutreffende Selbstverständnis vieler Polen deutlich, ihr Volk sei im Zusammenhang mit dem Vertreibungsgeschehen bloßer Spielball stärkerer Mächte gewesen.

Bei Roman Rudnik äußert sich dieses Opferbewußtsein folgendermaßen: "Die Deutschen wurden ausgesiedelt, das waren die Gesetze. Dort hatten sie die Polen ausgesiedelt, an der Ostgrenze, und hier die Deutschen. Die Herren Ribbentrop und diese Amerikaner, Engländer, Franzosen und Stalin haben doch die ganze Welt regiert. Sie haben es doch getan." Nicht minder aufschlußreich ist es, wenn ein Bauer ostpolnischer Herkunft die miserablen Böden rund um Seifershau beklagt. Mit einer Güteklasse von 5 bis 6 seien diese unvergleichlich schlechter als die 1er oder 2er Böden im alten Zuhause. Der Neuanfang in den vergleichsweise reichen Oder-Neiße-Gebieten wurde also keineswegs immer als wirtschaftlicher Aufstieg empfunden.

Vielleicht ist es die einzige inhaltliche Schwäche des Films, daß die Bevölkerungsverschiebungen in den östlichen Provinzen des Deutschen Reiches und in Ostpolen durch die dargestellten Schicksale zu sehr parallelisiert erscheinen. Bei den einzelnen Menschen mag der Heimatverlust die gleiche schmerzliche Bedeutung gehabt haben, dennoch wäre es für die historische Einordnung wichtig gewesen, auch die Unterschiede zu thematisieren.

Schon die Ausmaße sind sehr verschieden: Den rund 1,7 Millionen polnischen Zwangsaussiedlern, die bis 1953 in Polen gezählt wurden, stehen im Nachkriegsdeutschland über sieben Millionen Vertriebene aus Schlesien, Brandenburg, Pommern, West- und Ostdeutschland gegenüber. Während erstere in Ostpolen höchstens ein Siebtel der Bevölkerung ausgemacht hatten, war der deutsche Osten zu über 90 Prozent von Deutschen bewohnt. Außerdem verlief die Ausweisung der Polen geregelter, und nur wenige kamen körperlich zu Schaden.

Diese Kritik ändert jedoch nichts daran, daß "Schlesiens Wilder Westen" auf beeindruckend authentische Weise deutsch-polnische Zeitgeschichte lebendig macht. Hier wurde mit großer Anteilnahme gedreht, was sich nicht zuletzt daraus erklärt, daß Ute Badura durch ihren in Schweidnitz geborenen Vater einen persönlichen Zugang hat.

Die Regisseurin zeigt ein tiefes Verständnis für das Trauma des Heimatverlusts. In einer Zeit, in der die allerorten geforderte Mobilität die Bindungen an bestimmte Orte und Landstriche auflöst, ist das alles andere als selbstverständlich.

Anfragen über Städte und Kinos, in denen "Schlesiens Wilder Westen" zu sehen ist, sowie Vormerkungen für das ab etwa Mitte 2003 erhältliche Video sind zu richten an: Badura Filmproduktion, Körtestr. 18, 10967 Berlin, Tel.: 030-6950919
 
     
     
 
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