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Noch nicht am Ziel: Nationale Minderheiten in Europa ringen um ihr kulturelles Erbe

 
     
 
Von den 380 Millionen Menschen in der EU sprechen 50 Millionen Sprachen, die von der Amtssprache ihres Staates abweichen (die Regionalsprachen und Dialekte nicht gezählt). Noch größer ist die Zahl jener, die nationalen Minderheiten angehören oder Völkern, die keinen eigenen Staat haben. Man rechnet mit 100 Millionen Angehörigen von nationalen Volksgruppen in Europa.

Spätestens seitdem die konstruierten Vielvölkerstaaten Jugoslawien und Sowjetunion durch das von ihren Völkern in Anspruch genommene Selbstbestimmungsrecht auseinandergefallen sind, ist die Bedeutung von Völkern und Volksgruppen ins Bewußtsein auch der politischen Klasse gerückt. Man hat begriffen, daß sich explosive Kräfte ansammeln, wenn man Völkern ihre Eigenarten zu nehmen beabsichtigt und sie einer Fremdherrschaft unterwirft. So wird denn nach Wegen gesucht, wie man die national
en Eigenarten der Volksgruppen erhalten kann, ohne daß dadurch Staaten zerstückelt und letztendlich aufgelöst werden.

Die Auffassungen von Völkern und Nationen sind in Europa unterschiedlich. In den germanisch und slawisch geprägten Gebieten erkennt man, jedenfalls im Grundsatz, die Existenzberechtigung von Völkern an, während romanische Länder von der Idee des Zentralstaates ausgehen, in dem der Begriff der Staatsangehörigkeit bestimmend ist.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühten sich europäische Volksgruppen, ihre Rechte anzumelden und durchzusetzen. 1949 wurde in Frankreich die "Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen" (FUEV) ins Leben gerufen, zu der zunächst deutsche Minderheiten nicht zugelassen wurden. In den seitdem verstrichenen 50 Jahren hat sich diese Nicht-Regierungs-Organisation in erfreulicher Weise entwickelt. Sie hat heute 100 Mitgliedsvereinigungen aus 28 Staaten unter ihrem Dach vereinigt. Die gewählte Führung setzt sich aus Persönlichkeiten aus sieben Staaten zusammen. Präsident ist zur Zeit der Rätoromane Romedi Arquint aus der Schweiz. Die Liste der Vizepräsidenten umfaßt einen Bretonen, einen Deutschen aus der deutschen Volksgruppe in Dänemark, einen Vertreter der ungarischen Minderheiten, einen Südtiroler, einen Vertreter der kroatischen Minderheit in der Woiwodina und einen Sorben aus Deutschland. Ziel der Organisation ist es, die nationalen Eigenarten, die Sprachen, Kulturen und die jeweilige Geschichte der nationalen Minderheiten und ethnischen Volksgruppen zu erhalten, so daß die Volksgruppen ihre Identitäten bewahren. Ausdrücklich will die FUEV dieses Ziel ausschließlich mit friedlichen Mitteln erreichen. Separatismus lehnt sie ab. Ihr geht es um ein gut nachbarschaftliches friedliches Zusammenleben von Mehrheitsbevölkerung und Minderheit in einer Region.

Dieser Dachverband europäischer Volksgruppen hat vor sieben Jahren Grundsätze zu einem Konventionsentwurf für die Grundrechte der Volksgruppen Europas entwickelt und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE (früher KSZE), dem Europarat und dem Europäischen Parlament zugeleitet. Daraus ist die vom Ministerkomitee des Europarats verabschiedete "Rahmenkonvention zum Schutz nationaler Minderheiten" geworden, die zwar keine einklagbaren Rechte umfaßt, aber das erste juristisch bindende internationale Instrument für den generellen Schutz nationaler Minderheiten bedeutet.

Die FUEV hat beim Europarat einen konsultativen Status. Sie war in den vergangenen Jahren bei allen OSZE-Konferenzen, in denen es um Fragen von nationalen Minderheiten ging, offiziell vertreten. Sie wird finanziert durch Beiträge ihrer Mitgliedsorganisationen. Von einigen staatlichen Einrichtungen wird die FUEV finanziell unterstützt, so aus Österreich von der Kärntner Landesregierung, aus Deutschland durch die Staatskanzlei Schleswig-Holsteins, aus Südtirol durch die autonome Provinz Bozen/Trentino. Projekte finanzieren der Europarat und das deutsche Ministerium des Innern. Seit einigen Jahren schießt die gemeinnützige private Hermann-Niermann-Stiftung, Düsseldorf, erhebliche Mittel zu.

Die eindeutig übernationale und demokratische Arbeitsweise der FUEV hindert PDS und Grüne in Deutschland nicht daran, mit zunehmendem Haß die Bemühungen der FUEV zu verfolgen, was nur erklärbar ist aus der Tatsache, daß sie der marxistisch-leninistischen Auffassung von Nationen widerspricht.

Kürzlich wurde das Europäische Zentrum für Minderheitsfragen gegründet mit dem Sitz in Flensburg. Die international zusammengesetzte und finanzierte Institution soll Forschungsergebnisse zu Problemen zwischen Mehrheiten und Minderheiten auswerten und daraus praktische Lösungsvorschläge zum friedlichen Zusammenleben entwickeln. Das historische Gebäude, in dem dessen Zentrum in Flensburg untergebracht ist, wurde schon mehrfach von Linksradikalen mit Haßparolen beschmiert. Als Grund für ihre Angriffe geben Linke an, daß das Zentrum sich nur um nationale Minderheiten kümmere, nicht aber um Asylbewerber, Gastarbeiter, Schwule und Lesben.

Als nationale Minderheiten werden ausnahmslos autochthone (ursprüngliche und traditionelle) Volksgruppen verstanden, d. h. volkliche Gemeinschaften, die insbesondere durch Merkmale wie eigene Kultur, Sprache und Geschichte gekennzeichnet sind, die sie erhalten wollen. Eine solche Volksgruppe bildet in ihrer Heimat keinen eigenen Staat oder ist außerhalb des Staates ihrer Nationalität beheimatet. Die Angehörigen der Volksgruppe haben die Staatsangehörigkeit des Staates, in dem sie leben.

Das Europarat-Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, das inzwischen von zahlreichen Staaten ratifiziert wurde, so daß es Anfang 1998 in Kraft treten konnte, stellt Grundsätze zum Schutz nationaler Minderheiten sowie Rechte und Freiheiten ihrer Angehörigen fest. Danach sollen der Schutz nationaler Minderheiten und das Recht auf Freiheit ihrer Angehörigen unverzichtbarer Teil des internationalen Schutzes der Menschenrechte sein. Angehörige nationaler Minderheiten sollen vor dem Gesetz gleich behandelt werden mit denen des Mehrheitsvolkes. Sie sollen das Recht haben, ihre nationale Kultur zu erhalten und weiterzuentwickeln. Vor Behörden und Gerichten sollen Minderheitenangehörige sich in ihrer Sprache ausdrücken können. Niemand darf die Minderheiten daran hindern, gedruckte Medien in ihrer Sprache herauszubringen. Sie sollen eigene Schulen unterhalten dürfen. Verboten ist jedoch den Minderheiten, die territoriale Integrität des Landes, in dem sie leben, zu gefährden.

Die deutsche Bundesregierung erkennt offiziell als nationale Minderheiten in Deutschland nur zwei Gruppierungen an, nämlich die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit, die im nördlichen Schleswig-Holstein leben und die Sorben in Sachsen und Brandenburg. Das Rahmenabkommen soll aber auch auf die Angehörigen der traditionell in Deutschland heimischen Volksgruppen der Friesen und der Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit angewendet werden, letztere sind in der Regel die in Deutschland mit einem festen Wohnsitz ansässigen Zigeuner.

Während das Rahmenabkommen nunmehr in Kraft trat, hat eine andere, seit langer Zeit angestrebte Regelung, die Rechte der Volksgruppen konkret festzulegen, kaum eine Chance, in ganz Europa gültig zu werden, nämlich eine "Charta der Volksgruppenrechte in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft", die vor einigen Jahren vom Ausschuß für Recht und Bürgerrechte des Europäischen Parlaments entwickelt wurde (Berichterstatter war der Europaabgeordnete Graf Stauffenberg, CSU). Würde diese Charta in Kraft treten, dann hätte eine anerkannte Volksgruppe das Recht auf Zweisprachigkeit in ihrer Region. Amtliche Verlautbarungen müßten mehrsprachig erscheinen, vor Gericht und Behörden gelte die Mehrsprachigkeit ebenso wie etwa bei Straßen- und Ortsnamen. Die Regierungen müßten ihren nationalen Minderheiten Schulen usw. ebenso einrichten wie Radio- und Fernsehsendungen in der jeweiligen Volksgruppensprache. Eine solche Charta hätte für die betroffenen Staaten – und das ist die Mehrzahl in Europa – nicht nur erhebliche finanzielle und organisatorische Folgen, sondern – so fürchten jedenfalls einige der Staaten – könne auch dazu führen, daß die Existenz der Staaten in ihrer heutigen Gestalt sich grundlegend verändert.

Eine andere europäische Charta, nämlich die der Regional- und Minderheitensprachen, findet hingegen weitgehende Zustimmung. Deutschland hat sich aufgrund dieser Bestimmung verpflichtet, folgende Idiome auf seinem Gebiet zu schützen: die Sprache der dänischen Minderheit und das Sorbische sowie, in einer anderen Kategorie, Niederdeutsch und Friesisch.

Nicht alle Länder schließen sich der Auffassung an, daß nationale Volksgruppen das Recht auf Bewahrung ihrer Identität und den Anspruch auf Schutz haben. Sie können zwar kaum der Erkenntnis widersprechen, daß der Reichtum Europas in seiner nationalen und das heißt kulturellen Vielfalt liegt, doch fürchten sie, daß die Förderung der Mannigfaltigkeit die Existenz ihrer Staaten gefährdet. An der Spitze dieser Staaten stehen Frankreich und Griechenland, die überhaupt die Existenz von Minderheiten innerhalb ihrer Grenzen leugnen, wodurch denn wohl auch erklärt wird, warum gerade in diesen Ländern das Verhältnis zwischen den Minderheiten und dem Staat gespannt ist, wenn man es vorsichtig ausdrückt.

In den kommenden Folgen des es eine umfassende Übersicht von mehr als 50 Volksgruppen in ganz Europa.

 
     
     
 
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