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Quittung für Selbstbetrug

 
     
 
Die Demonstrationen gegen die links-liberale ungarische Regierung gehen weiter - allerdings sind sie derzeit nicht spektakulär genug, um für die Welt interessant zu sein. Ministerpräsident Gyurcsány muß also keinen Druck von außen befürchten und kann sogar hoffen, daß die kalte Jahreszeit für "Beruhigung" sorgen wird. Das ändert natürlich nichts an den von ihm getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die für die meisten Ungarn deutliche Verschlechterungen ihrer Lebensumstände bringen und Hauptursache der Unruhen sind - das Bekanntwerden von Gyurcsánys "Lügen-Rede" war nur der zündende Funke.

Ist nun die wirtschaftliche Lage tatsächlich so schlecht, wie es die Unzufriedenheit
der Bevölkerung zum Ausdruck bringt? Wenn ja, wer oder was ist schuld daran? Und wenn nein, wer oder was trägt zur Eskalation bei? Rein statistisch betrachtet steht Ungarn gar nicht so schlecht da: Mit einer Arbeitslosenquote von 7,6 Prozent (September 2006) liegt Ungarn besser als der EU-Durchschnitt und mit einer Staatsschuldenquote von derzeit rund 60 Prozent ebenfalls besser als der EU-Durchschnitt und auch besser als Deutschland und Österreich. Beim Brutto-Inlandsprodukt pro Kopf erreicht Ungarn zwar nur etwas mehr als ein Drittel des EU-Durchschnitts, unter den "Reformstaaten" wird es aber einzig von der Tschechei übertroffen. Beim Wirtschaftswachstum liegt Ungarn mit rund vier Prozent über dem EU-Durchschnitt, doch hinter anderen Reformstaaten.

Allerdings muß man überall das Wörtchen "noch" hinzufügen, wie sich an der Inflationsrate zeigt: Im April lag sie mit 2,4 Prozent noch auf EU-Durchschnitt, dank der verordneten Steuer- und Gebührenerhöhungen liegt sie mittlerweile bei sechs Prozent oder darüber. Aus dem gleichen Grund ist mit sinkendem Wirtschaftswachstum und steigender Arbeitslosigkeit zu rechnen. Ganz besonders schlecht steht Ungarn mit der Netto-Neuverschuldung des Staatshaushalts da: Die soll laut Regierung zwar von derzeit elf Prozent bis 2008 auf 3,1 Prozent gesenkt werden, der Internationale Währungsfonds hält dies aber für völlig unrealistisch.

Ein großes Problem ist die Schattenwirtschaft, die auf 20 Prozent geschätzt wird. Nun ist es zwar angenehm, Schwarzarbeit in Anspruch zu nehmen, und für gefragte Berufe wie Handwerker oder Ärzte ist es nicht minder angenehm, am Fiskus vorbei Geld zu verdienen. Der Normalverbraucher aber, der ein zweites oder gar drittes Einkommen braucht, weil er mit dem offiziellen nicht auskommt, ist schlechter dran - von Rentnern ganz zu schweigen. Denn was dem Staat bei Sozialversicherung und direkten Steuern entgeht, schlägt als niedrigere Sozialleistungen, höhere indirekte Steuern und Gebühren - und höhere Inflation wieder zurück.

Die Schattenwirtschaft ist natürlich nicht über Nacht entstanden: Schon der "Gulasch-Kommunismus" beruhte darauf, daß man kleine Freiheiten einschließlich "privater Handelsreisen" ins westliche Nachbarland zuließ. Nach der Wende ging eine im Grunde "populistische" Politik weiter, auch unter "bürgerlichen" Regierungen. Und die Ungarn kriegen heute eben die Rechnung präsentiert für jahrzehntelangen Volksbetrug - und Selbstbetrug.

Ungarn ist rohstoffarm und auch im Energiebereich stark importabhängig. Die hohen Energiekosten und die drastisch gestiegenen Mieten bewirken, daß man sich bei kleineren Gehältern außer "Wohnen" fast nichts mehr leisten kann. Arge Enttäuschung resultiert auch aus den von der Politik grob fahrlässig bis betrügerisch geweckten EU-Erwartungen, was besonders auf die Landwirtschaft zutrifft: Von den Subventionen profitieren nur die Großbetriebe, während die Kleinbauern hoffnungslos in der Schuldenfalle sitzen.

Aufgeheizt ist die Stimmung der Bevölkerung heute vor allem durch die wachsende Kluft zwischen Arm und (Neu-)Reich. Gyurcsány ist ein lebendes Symbol dafür, denn wie kann ein einstiger KP-Jugendfunktionär quasi über Nacht zu einem der reichsten Männer des Landes werden? Wie in den anderen Reformstaaten waren die alten Kader Hauptprofiteure der Privatisierung - und als geläuterte "Sozialisten" oder "Liberale" sind sie heute neuerlich an der Macht. Selbst die Methoden des Machterhalts erinnern mehr und mehr an "alte Zeiten", wie sich zuletzt am Vorgehen der Polizei und am Umgang mit den Medien zeigte. So kann es nicht verwundern, daß sogar die "Internationale Gesellschaft für Menschenrechte" ihre "Besorgnis" über die Entwicklung in Ungarn ausdrückte.

 

Dubiose Sonderwirtschaftszone

In Budapest hat sich eine Art chinesischer "Sonderwirtschaftszone" entwickelt. Nicht ein "Chinatown" im klassischen Sinn, vielmehr sind es mehrere Gebiete auf der Pester Stadtseite, wo sich ein chinesischer Betrieb an den anderen reiht. Dort ist alles zu kaufen - Billigstprodukte und Luxuswaren, Imitate und Originale, ein einzelnes Hemd oder gleich ein ganzer Container davon. Manches wird auf verschlungenen Wegen weiterexportiert.

Es begann bereits vor der Wende, als Ungarn die Visa-Erteilung liberalisierte. Nach der Wende wurden die Areale stillgelegter Betriebe von Chinesen (und anderen Ostasiaten) neu besiedelt. Es ist nicht bekannt, wie viele Menschen dort tätig sind, denn hinter jeder "Identität" können mehrere physische Personen stehen. Die Behörden hätten auch kaum die Möglichkeit durchzugreifen, denn es herrscht das "Gesetz des Schweigens". Abgesehen davon sind schlechtbezahlte Gesetzeshüter für "kleine Gefälligkeiten" empfänglich. Wer Budapest besucht, kriegt von all dem nichts mit, für die Ungarn aber ist es ein Ärgernis, das zur Mißstimmung beiträgt. RGK
 
     
     
 
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