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Rentenchaos

 
     
 
Vor den Bundestagswahlen war der IG-Metall-Funktionär Walter Riester wie eine Fortsetzung von Norbert Blüm mit anderem Parteibuch erschienen: Freund der kleinen Leute, der Arbeitnehmer und der Rentner. Gerade einmal 100 Tage in Blüms Sozialministers
essel, stellte Riester der älteren Generation Einschnitte in der künftigen Altersversorgung in Aussicht. Wie ernst Gerhard Schröders Rentenminister seine Ankündigung, die Nettolohnformel abschaffen zu wollen, gemeint hatte, war nicht mehr festzustellen. Riester ruderte bereits einen Tag nach seiner spektakulären Äußerung wieder zurück und vertrat ungefähr die gegenteilige Position.

Obwohl kein Autor genau sagen kann, ob seine Zeilen bis zur Drucklegung noch aktuell oder bereits von der rotgrünen Positionswechsellokomotive überholt worden sind, lohnt es sich, über Riesters unausgegorene Vorstellungen nachzudenken. Die Nettolohnformel besagt, daß die Erhöhungen der 17 Millionen Renten den Nettolöhnen des Vorjahres folgen. Verdienen die Arbeitnehmer erheblich mehr, steigen im Jahr danach die Renten stark an. Sind die Lohnzuwächse gering oder werden die Steuern und Abgaben erhöht, bleibt das Netto konstant. Im Jahr danach gibt es nur geringe oder sogar keine Rentenerhöhungen. Diese Rentenformel war 1992 von der alten Koalition eingeführt worden – mit Zustimmung der SPD übrigens.

In diesem Jahr wurde das Kindergeld erhöht, der steuerliche Grundfreibetrag gesenkt, und die Sozialabgaben werden am 1. April zurückgenommen. Im nächsten Jahr haben die Rentner also ein größeres Plus bei der Erhöhung zu erwarten als in den früheren Jahren, als die Senioren in Westdeutschland mit Mini-Anhebungen von unter einem Prozent abgefunden wurden. Außerdem hat die rotgrüne Regierung den von der Regierung Kohl beschlossenen "demographischen Faktor" durch ihre Korrekturgesetze außer Kraft gesetzt. Dieser Faktor sollte die Folgen des Geburtenrückgangs für die Rentenversicherung berücksichtigen.

Was kunstvoll als "Faktor" beschrieben wurde, war in Wirklichkeit nichts anderes als ein Kürzungsbetrag bei Rentenerhöhungen. Da der Faktor Geschichte ist, steigen die Renten bereits in diesem Jahr um 0,52 Prozentpunkte stärker, als noch in den alten Planungen steht. Bei 2000 Mark Rente bedeutet dies 10,40 DM mehr im Monat. Insgesamt werden die Renten in den Altländern zum 1. Juli um 1,7 Prozent und damit erstmals seit Jahren wieder fühlbar erhöht.

Das ist Riester wohl zu teuer. Er will jetzt zwar die Nettolohnformel beibehalten. Allerdings, so der SPD-Mann, dürften Sondereffekte wie die steuerliche Familienentlastung den Ruheständlern nicht zugute kommen. Riester sollte sich vor weiteren verbalen Ausflügen, die nichts als Unruhe ins Volk bringen, ein lateinisches Sprichwort merken: Hätte er geschwiegen, wäre er ein Philosoph geblieben. Doch vielleicht ist es für diese Weisheit bereits zu spät, denn der frühere IG-Metall-Funktionär hatte bereits mit seiner "Rente ab 60" vorschnelle Erwartungen geweckt. Die platzten wie Seifenblasen, als erste Finanzierungsberechnungen vorlagen.

Jetzt will der Sozialminister also allen Ernstes steuerliche Sondereffekte wie die anstehende Familienentlastung von den Rentenerhöhungen ausschließen. Dafür gibt es keinen Grund und schon gar keine Begründung. Außerdem darf nicht vergessen werden, daß ausgerechnet die nicht mehr berufstätige Generation durch die Ökosteuer besonders belastet wird. Rentner zahlen keine Beiträge zur Rentenversicherung; folglich profitieren sie nicht von deren Senkung. Aber den höheren Kosten für Heizung, Strom und Benzin können sie nicht entgehen.

Noch im Oktober hatte der Sozialminister erklärt, auch die Rentner würden dank Nettolohnformel von der durch Ökosteuern finanzierten Sozialbeitragssenkung und von der Familienentlastung "profitieren". Riesters Staatssekretär Gerd Andres (SPD) hatte stets versichert, durch die Ökosteuer entstünden den Rentnern keine Belastungen, weil es die Nettolohnformel gebe. Von Einschränkungen war nie die Rede. Dagegen hatte die Union darauf verwiesen, daß die Ökosteuer einen alleinstehenden Rentner im Jahre 2002 mit über 700 Mark im Jahr belasten werde.

Im Sommer könnte der Regierung neues Ungemach ins Haus stehen, dann nämlich wird ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Steuerpflicht von Renten erwartet. Wenn Karlsruhe immer noch so starken revolutionären Schwung haben sollte wie beim Familien- und Beamtenkinder-Urteil, könnte das ganze Rentensystem auf den Kopf gestellt werden – und Riester dann auch.

 
     
     
 
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